An die Sonne

Sonne, göttliches Licht! Schaffende, nährende

Himmelstochter! Du spendest uns

Wonne, Segen und Lust, Früchte den lockenden

Fluren, zeugest den Traubensaft.


Kaum entfaltet der Tag jugendlich heiter sich,

Sieh! Da singet ein Vögelchor

Hymnen, Schöpferin dir, alles belebendes,

Alles stärkendes Götterkind.


Sieh! Da glänzt das Gebüsch, Felder und duftende

Haine blitzend von kühlem Tau,

Der die Gewächse erfrischt, nähret, und stärkere

Wohlgerüche zum Himmel schickt.


Du verscheuchest den Schlaf, der mit allmächtigen

Schwingen jeglichen Menschen deckt,

Der im quälenden Traum foltert den Erdensohn,

Den du gütig der Qual entreißt.


Dankbar gegen die Huld deiner erquickenden

Güte, zollet der Afrer dir

Weihrauch, dankbar ertönt starrender Lappen Lied

Auf den eisigten Ebenen.


O dein strahlendes Haupt gibt mir ein Wonnegefühl!

Macht den Schöpfer mich ahnden. Da

Stürz ich nieder vor dir, bete die gütige

Allmacht hocherfreut, innig an.


Den 16ten Juni 1804


Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 9.
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