Die wahre Tugend

[28] Es lebt einmal in niedrer Hütte

Ein Klausner im Ardennerwald,

Von dessen Ruhm und strenger Sitte

Ringsum das ganze Land erschallt'.


Er betete bei Nacht und Tage,

Sein Mahl bestand aus schlechtem Brot,

Er rettete, so geht die Sage,

Gar oft das Land aus Pest und Not.


Einst, als ein Frost aus rauhen Lüften

Sich niedersenkt' auf die Natur,

Drückt Mißwachs die erstorbnen Triften,

Und Mangel jede Kreatur.
[28]

Und auch des Eremiten Schwelle

Verschont der grause Hunger nicht,

Er grinst auch in die enge Zelle

Mit abgezehrtem Angesicht.


Der Alte lenkt nach jenen Hütten,

Die ihn gepflegt, den matten Lauf,

Doch plötzlich hält in seinen Schritten

Ihn Hunger und Ermattung auf.


Von Froste starren seine Glieder,

An eine nahe Eiche lehnt

Er seinen Leib und stürzet nieder

Und ächzet an der Erd und stöhnt.


Doch sieh! Mit gräßlicher Gebärde

Naht nun ein Weib, hört sein Geschrei,

Erblickt den Armen auf der Erde

Und eilet schnell zu Hilf herbei.


Der Alte stöhnt: Ach, hab Erbarmen!

Nur einen kleinen Bissen Brot!

Es ist der letzte, in mir Armen

Wühlt schon der martervollste Tod.


Ich, Armer, sollte Brot dir geben?

Ruft sie, von herben Tränen schwer

Rollt hier ihr Blick, bei meinem Leben!

Ich habe nur dies Stückchen mehr.


Mit diesem will ich mich noch laben,

Das Totenmahl soll es mir sein. –

Doch, Alter, nein, du sollst es haben,

Hier, Lieber! Nimm es, es ist dein!


Ihr Busen pocht in lauten Schlägen,

Und mit verzweiflungsvollem Sinn

Schreit sie: Ach, gib mir deinen Segen,

Hier ist das Brot, ach, nimm es hin!
[29]

Er nimmts und nässet es mit Tränen,

Ich Sünder soll dich segnen? – dich?

O, rufet er mit leisem Stöhnen,

Weib, du bist heiliger als ich!


Den 28ten April 1806


Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 28-30.
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