An der Wiege eines Kindes

[98] Da liegt sie, eingehüllt,

Die hilflose Kleine,

Eine Blume an Schönheit

Und an Bewußtlosigkeit, daß sie schön;

Ein leeres Blatt die Seele,

Die Sinne Griffel ohne Führer,

Der Verstand ein Schreiber tief im Schlaf.

Kein Geist rief noch: es werde Licht!

Über der dunkeln Urnacht,

Und Mensch- und Tierheit streiten,

Wem sie gehört.


Sie lächelt! – Warum?

Sie weint! – Weswegen?

O, laßt sie weinen, lächeln ohne Grund!

Gebt diese Kunst ihr mit ins Leben!

Der beste Grund zum Frohsinn ist der Frohsinn,

Und mög auch künftig, wenn sie weint,

Nie das Bewußtsein sagen ihr, warum.


Wie rein die Stirn sich hebt,

Die Wangen strotzend leuchten,

Die Unterlippe, als zum Kuß geformt,

Ein Rosenblatt, sich schwellend hebt,

Vom Oberlippchen zierlich überrandet

Und Wang und Kinn mit ihren Grübchen

Zur strengen Schönheit fügen süßen Reiz!

Du bist schön, o Kleine!

Und wirst es mehr noch sein, wenn nicht mehr klein.


Sei mir gegrüßt, Gesegnete der Götter!

Denn, wahrlich, Schönheit ist der Götter Segen!

So ausgeschieden sein vom Niedern und Gemeinen,

Am Fuß der Himmelsleiter hingestellt,

Die von der Erde aufsteigt zu den Göttern

Und einen ewgen Mahner an der Seite,

Der leise ruft: Zerstör mich nicht!

Das Schöne, es ist gut und schön das Gute.
[99]

Und so wirst du auch gut sein, gut wie schön,

Und klug wie beides und verständig.

Des Vaters Aug in deiner klaren Stirn,

Es wird von Recht einst sprechen wie in seiner,

Der Mutter Mund ob deinem weichen Kinn,

Er wird von Geist ertönen wie bei ihr,

Und fester Sinn wird thronen in den Brauen.


Was lächelst du? als hättest du vernommen

Der allzuraschen Lippe weihend Lob.

Ich sage dir, die Güte, die dich schmückt,

Sie wird dir einst der Tränen mehr entpressen,

Als die Vergehung weinet und der Schmerz,

Und des Verstandes Fackel wird dir leuchten,

Da, wo du wünschtest lieber blind zu sein,

Und spotten werden dein die andern Blinden.


Doch immerhin! laß beide strahlen,

Erwärmend und erleuchtend für und für,

Tu dir genug, so tust dus auch der Welt!

Und so geh ruhig deinen stillen Pfad.

Und wenn du einst am Rande deiner Bahn,

Gebettet in der Schwachheit Schaukelwiege

Und eingewickelt in des Alters Binden,

Zum zweitenmal ein Kind, stillatmend ruhst,

So gebe gnädig dir ein gütger Gott,

Daß auch du lächeln könnest dann, wie jetzt,

Dem Eintritt in ein noch verhülltes Leben.

Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 98-100.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Gedichte und Dramen
Medea: Trauerspiel in fünf Aufzügen. Dritte Abteilung des dramatischen Gedichts »Das Goldene Vlies«
Das goldene Vliess: Dramatisches Gedicht in drei Abteilungen. (Der Gastfreund, Die Argonauten, Medea)
Gedichte Reclam
Sämtliche Werke: Erster und zweiter Band: Gedichte

Buchempfehlung

Prévost d'Exiles, Antoine-François

Manon Lescaut

Manon Lescaut

Der junge Chevalier des Grieux schlägt die vom Vater eingefädelte Karriere als Malteserritter aus und flüchtet mit Manon Lescaut, deren Eltern sie in ein Kloster verbannt hatten, kurzerhand nach Paris. Das junge Paar lebt von Luft und Liebe bis Manon Gefallen an einem anderen findet. Grieux kehrt reumütig in die Obhut seiner Eltern zurück und nimmt das Studium der Theologie auf. Bis er Manon wiedertrifft, ihr verzeiht, und erneut mit ihr durchbrennt. Geldsorgen und Manons Lebenswandel lassen Grieux zum Falschspieler werden, er wird verhaftet, Manon wieder untreu. Schließlich landen beide in Amerika und bauen sich ein neues Leben auf. Bis Manon... »Liebe! Liebe! wirst du es denn nie lernen, mit der Vernunft zusammenzugehen?« schüttelt der Polizist den Kopf, als er Grieux festnimmt und beschreibt damit das zentrale Motiv des berühmten Romans von Antoine François Prévost d'Exiles.

142 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier III. Neun weitere Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Für den dritten Band hat Michael Holzinger neun weitere Meistererzählungen aus dem Biedermeier zusammengefasst.

444 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon