[Es war ein Hirt, mild wie die Gottesgabe]

[321] Es war ein Hirt, mild wie die Gottesgabe,

Ein netter Mann und elegant dabei;

Ein blaues Band an seinem Schäferstabe,

Vor allem blies er lieblich die Schalmei.


Der folgt der Herde nach mit leisem Tritte

Und statt zu führen ward er selbst geführt.

Ein jedes Blöken schien ihm eine Bitte,

Von jeder Bitte war er gleich gerührt.


Vor allem, wenn mit flehender Gebärde

Ein tüchtger Widder ihm die Hörner wies.

Drum wollt er rechts, so ging nach links die Herde,

Er nahm sein Wort zurück und sang und blies.


Da brachen sie denn rings in alle Raine,

Des Nachbars Saat den Tieren wohl behagt;

Sie überkletterten die Schirmungszäune,

Der jungen Bäumchen Rinde ward benagt.


Er schien daraus nicht allzuviel zu machen,

Dem Nachbar ohnehin war er nicht hold,

Und stießen auch die Stärkern nach den Schwachen,

Verzeihung um Verzeihn ist Liebessold.


Da scheint der Schwarm mit eins Gefahr zu wittern –

Der Wolf! der Wolf! der allgemeine Feind –

Den guten Hirten überfällt ein Zittern,

Er sinkt auf seine Knie und flennt und weint.


Doch will ers mit der Tonkunst noch probieren,

Mit blassem Munde bläst er die Schalmei;

Den Wolf mag solches Mundwerk wenig rühren,

Schon raschelts im Gebüsch, er kommt herbei.
[321]

Da fällt ein Schuß, und wo der Waldweg offen,

Erscheint ein zweiter Hirt voll ernstem Mut,

In einer Hand die Büchse, die getroffen,

Die andre schleppt den Wolf in seinem Blut.


Er wirft das Tier zu des Erschrocknen Füßen,

»Hier ist der Feind«, ruft er, »den ich bestand,

Mir hat er selbst ein teures Lamm zerrissen,

Noch bebt mein Herz, allein nicht meine Hand.«


»Doch willst du künftig wieder Lämmer weiden,

So schütze sie vor sich und vor Gefahr,

Die Schwäche liebt in Sanftmut sich zu kleiden,

Der Mut erst macht des Lenkers Worte wahr.«

Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 321-322.
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