[Ich sah ein Bild von kundger Hand]

[344] Ich sah ein Bild von kundger Hand

Nur jüngst an eines Saales Wand,

Darauf ein Mann war zu erblicken

Mit einem Sack auf seinem Rücken.

Der beugt nach vorn des Körpers Wucht,

Als einer, der da emsig sucht.

Und vor ihm lags in buntem Scheine,

Wie Edel- oder falsche Steine,

Auf jedem aber eine Schrift,

Wie mans bei alten Bildern trifft.[344]

Auf einem stand, von winzger Kleinheit,

Mit großen Lettern: Deutschlands Einheit,

Hier Weltmacht und dort deutsche Flotte,

Der Mensch hinaufgeschraubt zum Gotte,

Da Schleswig-Holstein und der Belt,

Ansiedlung in der neuen Welt;

Was irgend groß und vollgewaltig,

War da in Namen mannigfaltig.

Das rafft er auf und huckepack

Wirft ers nach rückwärts in den Sack.

Zu allem Unglück war jedoch

Im Boden seines Sacks ein Loch,

Da fiel, indem er Neues las,

Heraus, was er schon längst besaß,

Preßfreiheit lag am Boden schon,

Freizügigkeit nicht weit davon,

Die Volksvertretung war zerbrochen,

Zum Beirat winzig eingekrochen,

Der Landessteur Bewilligung,

Halb ausgelöscht, nur Billigung,

Da dacht ich: fährt der Mann so fort,

Geht er als Bettler von dem Ort.

Quelle:
Franz Grillparzer: Sämtliche Werke. Band 1, München [1960–1965], S. 344-345.
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