Erste Scene.

[99] (Mordi's Garten.)


Mordi.

(Er ist von seiner ungeheuern Größe und Dicke ganz zusammen gerunzelt und bis auf die gewöhnliche Mannesgröße eingeschrumpft. Seine Schuppenhaut hängt ihm in Falten um den Leib, seine rothe Zunge ist ihm ganz schwarzbraun eingetrocknet, und seine Augen sind trübgelb und ohne Glanz. Er spricht langsam mit tiefer, aber schwacher Stimme:)


Ja, nun gehts mit mir zu Ende;

Meine Freundin Roselinde

Hat mich ganz und gar vergessen

In den Armen ihres Vaters,

In dem Land der lieben Heimath.

Ach, ich leide große Schmerzen,[99]

Schon so klein bin ich geworden,

Und so schwach bin ich und elend.

Bin zu schwach, vom Lebensbaume

Lebensbalsam mir zu holen,

Und von meinen vielen Dienern

Darf ich keinen darnach senden,

Soll er nicht die Kraft verlieren.

Nur in eines Menschen Händen,

Oder auch in meinen Krallen

Bleibt der Lebensbalsam kräftig;

Aber meine Diener alle

Sind ja Affen oder Hunde.

– Hat sie mich denn ganz vergessen?

Nun, so leg' ich hier mich nieder,

Hier in's hohe Gras, und sterbe.

Wär' ich nur als Mensch gestorben,

Dann, dann wäre meine Seele

In den Himmel doch gekommen.

Aber so wird auch die Seele

Mit dem Leib mir täglich kleiner,

Und nach sechzig vollen Tagen

Ist auch gar nichts von mir übrig,

Weder Körper mehr, noch Seele.

– Das ist schmerzlich! Nein, es ist nicht[100]

Solch ein Unglück zu ermessen.

– Ja, sie hat mich ganz vergessen.


Quelle:
Albert Ludewig Grimm: Lina’s Mährchenbuch 1–2. Band 1, Grimma 21837, S. 99-101.
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