[6] 4. Der junge Riese.

(Aus der Leinegegend.) Dies und die zunächst folgenden Märchen stehen zusammen, weil sich in ihnen merkwürdige Hinweisungen auf die alte Heldensage[6] erhalten haben. – Der junge Riese hier ist mit Siegfried verwandt, dessen gewaltige Riesen–Natur in seiner Jugend und überhaupt in seinem Leben die Gedichte ähnlich beschreiben. Er fängt die Löwen, bindet sie an den Schwänzen zusammen und hängt sie über die Mauer (Rosengr. 3. Siegfr. Lied. 33.). Deutlicher ist sein Arbeiten beim Schmied, dem er hier eben so ungefüg zuschlägt (Lied 5.) und der wie Reigen goldgierig ist und aus Geiz alles allein besitzen will; ferner, die Hinterlist des gleichfalls habsüchtigen Amtmanns, der ihn los seyn will, welche jener des Reigen entspricht, so wie die gefährliche verwünschte Mühle dem Drachen–Nest, wohin er, der den Schrecken nicht kennt (was die nord. Sage recht hervorhebt, denn Brunhild hatte gelobt keinem andern sich zu vermählen als einem ganz unerschrockenen s. Sigurdrifa's Lied) furchtlos geht und siegreich zurückkommt. Der Riese erscheint ganz in den Sitten, welche die alten Gedichte beschreiben: eine Eisenstange ist sein Waffen und er versucht die Kraft am Ausreißen der Bäume (vgl. Anmerk. zu den altdän. Liedern S. 493). Das unschädliche Herabwerfen der Mühlsteine erinnert lebhaft an Thors Abentheuer mit Skrimnir (Dämis. 38.), wie diese wieder an die Böhmische vom Riesen Scharmack. Die Erziehung bei Riesen ist gleichfalls ein alter bedeutender Umstand; bei diesen oder bei kunstreichen Zwergen wurden die Helden in die Lehre gethan, wie Sigurd bei Reigin und Widga (Wittich) in der Wilk. S., ebenso daß der Riese den jungen selber säugt, was auch in Nr. 6. vorkommt. Siegfried und der Eulenspiegel berühren und nähern sich einander, welches unser Märchen vollkommen zur Gewißheit erhebt, und man darf den jungen Helden darin so gut einen edleren Riesen–Eulenspiegel als einen spaßhafteren gehörnten Siegfried nennen (ähnliche Helden sind Simson und Morolf und vor allen Gargantua nach den echten Volkssagen von ihm. Mémoires de l' acad. celtique V. 392) Beide Eulenspiegel und Siegfried wandern in die Welt aus, nehmen Dienste und mißhandeln in ihrem Uebermuth die bloß menschlichen Handwerker; namentlich ist wichtig, daß Eulenspiegel dem[7] Schmied sein Geräth verdirbt und als Küchenknecht bei den Braten gestellt wird, den er abißt, wie Sigurd das Drachenherz, das er dem Reigen braten soll; er geht auf den Harz, fängt Wölfe, um die Leute damit zu schrecken, wie Siegfried den Bären (Nibel. 3800 ff.). Schon in der Sprache ist der Diener ein Schalk und der Hofdiener fällt mit dem Hofnarren zusammen. Soini, der finnische Rieseneulenspiegel hieß gerade auch Kalkki (Diener). Drei Nächte alt, trat er sein Windelband auf und man sah, daß ihm nicht zu trauen war, also wurde er ausgeboten. Ein Schmied nahm ihn in seinen Dienst, dem sollte er sein Kind hüten, aber er griff dem Kind die Augen aus, tödtete es nachher und verbrannte die Wiege. Drauf setzte ihn der Schmied über einen Zaun, den er flechten sollte, da holte er Fichten im Wald und flocht sie mit Schlangen zusammen; nun mußte er Vieh weiden, die Hausfrau aus Rache backte ihm einen Stein ins Brot, so daß er sich sein Messer stumpfte; erzürnt rief er Bären und Wölfe, daß sie die Heerde fräßen, aus den Kühbeinen und Ochsenhörnern aber machte er sich Blashörner und trieb die Wölfe und Bären statt der andern Heerde heim.

Der nordische Grettir, als er Gänse und Rosse hüten soll, spielt ähnliche Streiche (bernsku–braugd, Kinderstreiche). Das Heldenmäßige bricht in der Jugendroheit und Nichtachtung des gewöhnlichen Menschentreibens hervor, wie auch Florens im Octavian dem Clemens die Ochsen verschleudert.

Eine andere Erzählung aus Hessen ist viel unvollständiger, hat aber ihr eigenes. Kürdchen Bingeling hat an seiner Mutter Brust sieben Jahre getrunken, davon er so gewaltig groß geworden und so viel hat essen können, daß er nicht zu ersättigen ist; alle Menschen aber hat er gequält und genarrt. Nun versammelt sich die ganze Gemeinde, will ihn fangen und tödten, er aber merkts, setzt sich unter das Thor und sperrt den Weg, (gerade wie Gargantua den Berg Gargant nicht weit von Nantes schafft), so daß ohne Hacken und Schippen, kein Mensch durchkam und er ruhig weiter geht. Nun ist er in einem andern Dorf, aber noch derselbe Schlingel und da[8] macht sich wieder die ganze Gemeinde auf, ihn zu greifen, er aber, weil kein Thor da ist, das er verrammeln kann, springt in einen Brunnen. Nun stellt sich die Gemeinde herum und rathschlagt, sie beschließen endlich ihm einen Mühlstein auf den Kopf zu werfen. Mit großer Mühe wird einer herbeigeholt und hinabgerollt, wie sie meinen, er wär todt, kommt auf einmal der Kopf aus dem Brunnen, den hat er durch das Loch des Steins gesteckt, so daß dieser ihm auf den Schultern hängt, wobei er ruft: »ach! was hab ich einen schönen Düten–Kragen!« Wie sie das sehen, rathschlagen sie von neuem, und schicken dann hin und lassen ihre große Klocke aus dem Kirchthurm holen, und werfen sie auf ihn hinab, die sollt ihn gewiß treffen (gerade wie beim Riesen Scharmack). Wie sie nun meinen, er liege unten erschlagen und gehen aus einander, kommt er auf einmal aus dem Brunnen gesprungen, hat die Klocke auf dem Haupt, ruft ganz freudig: »ach! was eine schöne Bingelmütze!« und lauft davon.

Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Kinder- und Hausmärchen. 2 Bände, Band 2, Berlin 1812/15, S. VI6-IX9.
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