71. Das Streichmaß, der Ring und der Becher

[89] Im Herzogtum Lothringen, als es noch lange zu Deutschland gehörte, herrschte zwischen Nanzig und Luenstadt (Luneville) der letzte Graf von Orgewiler. Er hatte keine Schwertmagen mehr und verteilte auf dem Todbette seine Länder unter seine[89] drei Töchter und Schwiegersöhne. Die älteste Tochter hatte Simons von Bestein, die mittlere Herr von Crony und die jüngste ein deutscher Rheingraf geheiratet. Außer den Herrschaften teilte er noch seinen Erben drei Geschenke aus, der ältesten Tochter einen Streichlöffel (Streichmaß), der mittleren einen Trinkbecher und der dritten einen Kleinodring, mit der Vermahnung, daß sie und ihre Nachkömmlinge diese Stücke sorgfältig aufheben sollten, so würden ihre Häuser beständig glücklich sein.

Die Sage, wie der Graf diese Stücke bekommen, erzählt der Marschall von Bassompierre (Bassenstein), Urenkel des Simons, selbst: Der Graf war vermählt, hatte aber noch eine geheime Liebschaft mit einer wunderbaren schönen Frau, die wöchentlich alle Montage in ein Sommerhaus des Gartens zu ihm kam. Lange blieb dieser Handel seiner Gemahlin verborgen; wann er sich entfernte, bildete er ihr ein, daß er des Nachts im Wald auf den Anstand ginge. Aber nach ein paar Jahren schöpfte die Gräfin Verdacht und trachtete die rechte Wahrheit zu erfahren. Eines Sommermorgens frühe schlich sie ihm nach und kam in die Sommerlaube. Da sah sie ihren Gemahl schlafen in den Armen eines wunderschönen Frauenbildes; weil sie aber beide so sanfte schliefen, wollte sie sie nicht wecken, sondern nahm ihren Schleier vom Haupt und breitete ihn über der Schlafenden Füße. Als die schöne Buhlerin erwachte und des Schleiers innen ward, tat sie einen hellen Schrei, hub an jämmerlich zu klagen und sagte: »Hinfüro, mein Liebster, sehen wir uns nimmermehr wieder, nun muß ich hundert Meilen weit weg und abgesondert von dir bleiben.« Damit verließ sie den Grafen, verehrte ihm aber vorher noch obgemeldete drei Gaben für seine drei Töchter, die möchten sie niemals abhanden kommen lassen.

Das Haus Bassenstein hatte lange Zeit durch aus der Stadt Spinal (Epinal) einen Fruchtzins zu ziehen, wozu dieser Maßlöffel (cuiller de la mesure) stets gebraucht wurde.[90]

Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. München [1965], S. 89-91.
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