88. Wechselkind mit Ruten gestrichen

[125] Im Jahre 1580 hat sich folgende wahrhaftige Geschichte begeben: Nahe bei Breslau wohnet ein namhaftiger Edelmann, der hat im Sommer viel Heu und Grummet aufzumachen, dazu ihm seine Untertanen frönen müssen. Unter diesen ward auch[125] berufen eine Kindbetterin, so kaum acht Tage im Kindbett gelegen. Wie sie nun siehet, daß es der Junker haben wollte und sie sich nicht weigern kann, nimmt sie ihr Kind mit ihr hinaus, legt es auf ein Häuflein Gras, geht von ihm und wartet dem Heumachen ab. Als sie eine gute Weile gearbeitet und ihr Kindlein zu säugen gehet, siehet sie es an, schreiet heftig und schlägt die Hände überm Kopf zusammen und klaget männiglich, dies sei nicht ihr Kind, weil es geizig ihr die Milch entziehe und so unmenschlich heule, das sie an ihrem Kinde nicht gewohnt sei. Wie dem allen, so behielt sie es etliche Tag über, das hielt sich so ungebührlich, daß die gute Frau nahe zugrund gerichtet wäre. Solches klaget sie dem Junker, der sagt zu ihr: »Frau, wenn es Euch bedünket, daß dies nicht Euer Kind, so tut eins und tragt es auf die Wiese, da Ihr das vorige Kind hingeleget habt, und streichet es mit der Rute heftig, so werdet Ihr Wunder sehen.«

Die Frau folgte dem Junker, ging hinaus und strich das Wechselkind mit der Rute, daß es sehr geschrien hat; da brachte der Teufel ihr gestohlen Kind und sprach: »Da hast's!« und mit dem nahm er sein Kind hinweg.

Diese Geschichte ist lautbar und beiden, Jung und Alten, in derselbigen Gegend um und in Breslau landkündig.

Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. München [1965], S. 125-126.
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