170. Rodensteins Auszug

[192] Nah an dem zum gräflich erbachischen Amt Reichenberg gehörigen Dorf Oberkainsbach, unweit dem Odenwald, liegen auf einem Berge die Trümmer des alten Schlosses Schnellerts;[192] gegenüber eine Stunde davon, in der Rodsteiner Mark, lebten ehemals die Herrn von Rodenstein, deren männlicher Stamm erloschen ist. Noch sind die Ruinen ihres alten Raubschlosses zu sehen.

Der letzte Besitzer desselben hat sich besonders durch seine Macht, durch die Menge seiner Knechte und des erlangten Reichtums berühmt gemacht; von ihm geht folgende Sage: Wenn ein Krieg bevorsteht, so zieht er von seinem gewöhnlichen Aufenthaltsort Schnellerts bei grauender Nacht aus, begleitet von seinem Hausgesind und schmetternden Trompeten. Er zieht durch Hecken und Gesträuche, durch die Hofraite und Scheune Simon Daums zu Oberkainsbach bis nach dem Rodenstein, flüchtet gleichsam, als wolle er das Seinige in Sicherheit bringen. Man hat das Knarren der Wagen und ein Hoho-Schreien, die Pferde anzutreiben, ja selbst die einzelnen Worte gehört, die einherziehendem Kriegsvolk vom Anführer zugerufen werden und womit ihm befohlen wird. Zeigen sich Hoffnungen zum Frieden, dann kehrt er in gleichem Zuge vom Rodenstein nach dem Schnellerts zurück, doch in ruhiger Stille, und man kann dann gewiß sein, daß der Frieden wirklich abgeschlossen wird1. Ehe Napoleon im Frühjahr 1815 landete, war bestimmt die Sage, der Rodensteiner sei wieder in die Kriegburg ausgezogen.

Fußnoten

1 Bei dem erbachischen Amt Reichenberg zu Reichelsheim hat man viele Personen deshalb abgehört; die Protokolle fangen mit dem Jahre 1742 an und endigen mit 1764. Im Juli 1792 war ein Auszug. Im Jahre 1816 erneuern sich in der Rheingegend ähnliche Gerüchte und Aussagen. Einige nennen statt des Rodensteiners den Lindenschmied, von dem das bekannte Volkslied anhebt: »Es ist noch nicht lang, daß es geschah, daß man den Lindenschmied reiten sah auf seinem hohen Rosse, er ritt den Rheinstrom auf und ab, hat's gar wohl genossen.« Anders sagen, daß Schnellert aus seiner Burg nach dem Rodenstein auszöge, um seinen geschwornen Todfeind, den Rodensteiner, auch noch als Geist zu befehden. – Eine Abbildung der Ruine Rodenstein vor Theodor von Haupts »Ährenlese aus der Vorzeit«, 1816. Daselbst der Schnellertsgeist als Kriegs- und Friedensherold nach amtlichen Berichten und Zeugenaussagen, Seite 281 bis 316.


Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. München [1965], S. 192-193.
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