230. Das steinerne Brautbett

[236] In Deutschböhmen türmt sich ein Felsen, dessen Spitze, in zwei Teile geteilt, gleichsam ein Lager und Bett oben bildet. Davon hört man sagen: Es habe sonst da ein Schloß gestanden, worin eine Edelfrau mit ihrer einzigen Tochter lebte. Diese liebte wider Willen der Mutter einen jungen Herrn aus der Nachbarschaft, und die Mutter wollte niemals leiden, daß sie ihn heiratete. Aber die Tochter übertrat das Gebot und versprach sich heimlich ihrem Liebhaber mit der Bedingung, daß sie auf den Tod der Mutter warten und sich dann vermählen wollten. Allein die Mutter erfuhr noch vor ihrem Tode das Verlöbnis, sprach einen strengen Fluch aus und bat Gott inbrünstig, daß er ihn hören und der Tochter Brautbett in einen Stein verwandeln möge. Die Mutter starb, die ungehorsame Tochter reichte dem Bräutigam die Hand, und die Hochzeit wurde mit großer Pracht auf dem Felsenschloß gefeiert. Um Mitternacht, wie sie in die Brautkammer gingen, hörte die Nachbarschaft ringsumher einen fürchterlichen Donner schlagen. Am andern Morgen war das Schloß verschwunden, kein Weg und Steg führte zum Felsen, und auf dem Gipfel saß die Braut in dem steinernen Bette, welches man noch jetzt deutlich sehen und betrachten kann. Kein Mensch konnte sie erretten, und jeder, der versuchen wollte, die Steile zu erklettern, stürzte herab. So mußte sie verhungern und verschmachten; ihren toten Leichnam fraßen die Raben.

Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. München [1965], S. 236.
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