353. Der Judenstein

[331] Im Jahre 1462 ist es zu Tirol im Dorfe Rinn geschehen, daß etliche Juden einen armen Bauer durch eine große Menge Geld dahin brachten, ihnen sein kleines Kind hinzugeben. Sie nahmen es mit hinaus in den Wald und marterten es dort auf einem großen Stein, seitdem der Judenstein genannt, auf die entsetzlichste Weise zu Tod. Den zerstochenen Leichnam hingen sie darnach an einen unfern einer Brücke stehenden Birkenbaum. Die Mutter des Kindes arbeitete gerade im Feld, als der Mord[331] geschah; auf einmal kamen ihr Gedanken an ihr Kind, und ihr wurde, ohne daß sie wußte warum, so angst; indem fielen auch drei frische Blutstropfen nacheinander auf ihre Hand. Voll Herzensbangigkeit eilte sie heim und begehrte nach ihrem Kind. Der Mann zog sie in die Kammer, gestand, was er getan, und wollte ihr nun das schöne Geld zeigen, das sie aus aller Armut befreie, aber es war all in Laub verwandelt. Da ward der Vater wahnsinnig und grämte sich tot, aber die Mutter ging aus und suchte ihr Kindlein, und als sie es an dem Baum hängend gefunden, nahm sie es unter heißen Tränen herab und trug es in die Kirche nach Rinn. Noch jetzt liegt es dort und wird vom Volk als ein heiliges Kind betrachtet. Auch der Judenstein ist dorthin gebracht. Der Sage nach hieb ein Hirt den Baum ab, an dem das Kindlein gehangen, aber als er ihn nach Haus tragen wollte, brach er ein Bein und mußte daran sterben.

Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. München [1965], S. 331-332.
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