395. Sage von Rodulf und Rumetrud

[361] Als die Heruler und Langobarden ihren Krieg durch ein Friedensbündnis aufheben wollten, sandte König Rodulf seinen Bruder zu König Tato, daß er alles abschließen sollte. Nach beendigtem Geschäfte kehrte der Gesandte heim; da geschah es, daß er unterwegs vorbeiziehen mußte, wo Rumetrud wohnte, des langobardischen Königs Tochter. Diese sah die Menge seines Gefolges, fragte, wer das wohl sein möchte, und hörte, daß es der herulische Gesandte, Rodulfs leiblicher Bruder, wäre, der in sein Land heimzöge. Da schickte sie einen zu ihm und ließ ihn laden, ob er kommen wolle, einen Becher Wein zu trinken. Ohne Arg folgte er der Ladung; aber die Jungfrau spottete seiner aus Übermut, weil er kleinlicher Gestalt war, und sprach höhnende Reden. Er dagegen, übergossen von Scham und Zorn, stieß noch härtere Worte aus, also daß die Königstochter viel mehr beschämt wurde und innerlich von Wut entbrannte. Allein sie verstellte ihre Rache und versuchte mit freundlicher Miene ein angenehmes Gespräch zu führen und lud den Jüngling zu sitzen ein. Den Sitz aber wies sie ihm da an, wo in der Wand[361] eine Luke war, darüber sie, gleichsam zu des Gastes Ehren, einen köstlichen Teppich hängen lassen; eigentlich aber wollte sie damit allen Argwohn entfernen. Nun hatte sie ihren Dienern befohlen, sobald sie zu dem Schenken das Wort sprechen würde: »Mische den Becher!« daß sie durch die Luke des Gastes Schulterblatt durchstoßen sollten, und so geschah es auch. Denn bald gab das grausame Weib jenes Zeichen, und der unselige Gast sank mit Wunden durchbohrt zur Erde.

Da König Rodulf von seines Bruders Mord Kundschaft bekam, klagte er schmerzlich und sehnte sich nach Rache; alsbald brach er den neuen Bund und sagte den Langobarden Krieg an. Wie nun der Schlachttag erschien, war Rodulf seiner Sache so gewiß, daß ihm der Sieg unzweifelhaft deuchte, und während das Heer ausrückte, er ruhig im Lager blieb und Schachtafel spielte. Denn die Heruler waren dazumal im Kampf wohlerfahren und durch viele Kriege berühmt. Um freier zu fechten, oder als verachteten sie alle Wunden, pflegten sie auch nackend zu streiten und nichts als die Scham zu bedecken an ihrem Leibe.

Als nun der König, wie gesagt, fest auf die Tapferkeit der Heruler baute und ruhig Tafel spielte, hieß er einen seiner Leute auf einen nahestehenden Baum steigen, daß er ihm der Heruler Sieg desto schneller verkündige; doch mit der zugefügten Drohung: »Meldest du mir von ihrer Flucht, so ist dein Haupt verloren.« Wie nun der Knecht oben auf dem Baume stand, sah er, daß die Schlacht übel ging; aber er wagte nicht zu sprechen, und erst wie das ganze Heer dem Feinde den Rücken kehrte, brach er in die Worte aus: »Weh dir, Herulerland, der Zorn des Himmels hat dich betroffen!« Das hörte Rodulf und sprach: »Wie, fliehen meine Heruler?« – »Nicht ich«, rief jener, »sondern du, König, hast dies Wort gesprochen.« Da traf den König Schrecken und Verwirrung, daß er und seine umstehenden Leute keinen Rat wußten und bald die langobardischen Haufen einbrachen und alles erschlugen. Da fiel Rodulf ohne männliche Tat. Und über der Heruler Macht, wie sie hierhin und dorthin zerstreut wurde, waltete Gottes Zorn schrecklich. Denn als die Fliehenden blühende Flachsfelder vor sich sahen, meinten sie vor einem schwimmbaren Wasser zu stehen, breiteten die Arme aus, in der Meinung zu schwimmen, und sanken grausam unter der[362] Feinde Schwert1. Die Langobarden aber trugen unermeßliche Beute davon und teilten sie im Lager; Rodulfs Fahne und Helm, den er in den Schlachten immer getragen hatte, bekam Tato, der König. Von der Zeit an war alle Kraft der Heruler gebrochen, sie hatten keine Könige mehr; die Langobarden aber wurden durch diesen Sieg reicher und mächtiger als je vorher.

Fußnoten

1 Diesen poetischen und ganz sagenhaften Zug hat auch Aimoin in seinen sonst kurzen Exzerpten aus Paulus (lib. II, cap. 13).


Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. München [1965], S. 361-363.
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