404. Agilulf und Theudelind

[369] Nach Autharis (Vetaris) Tode ließen die Langobarden Theudelind, die königliche Witwe, die ihnen allen wohlgefiel, in ihrer Würde bestehen und stellten ihr frei, welchen sie wollte, aus dem Volk zu wählen, den würden sie alle für ihren König[369] erkennen. Sie aber berief Agilulf, Herzog von Taurin, einen tapfern kriegerischen Mann, und reiste ihm selbst bis nach Laumell entgegen. Gleich nach dem ersten Gruß ließ sie Wein schenken, trank selber und reichte das übrige dem Agilulf hin. Als er nun beim Empfang des Bechers ehrerbietig die Hand der Königin küßte, sprach sie lächelnd und errötend: »Der braucht mir nicht die Hand zu küssen, welcher mir seinen Kuß auf den Mund geben soll.« Hierauf ließ sie ihn zum Kuß und tat ihm den gefaßten Entschluß kund; unter allgemeinem Frohlocken wurde bald die Hochzeit begangen und Agilulf von allem versammelten Volk zum König angenommen.

Unter der weisen und kräftigen Herrschaft dieses Königs stand das Reich der Langobarden in Glück und Frieden; Theudelind, seine Gemahlin, war schön und tugendsam. Es begab sich aber, daß ein Jüngling aus dem königlichen Gesinde eine unüberwindliche Liebe zu der Königin faßte und doch, seiner niedern Abkunft halben, keine Hoffnung nähren durfte, jemals zur Befriedigung seiner Wünsche zu gelangen. Er beschloß endlich, das Äußerste zu wagen, und wenn er sterben müsse. Weil er nun abgemerkt hatte, daß der König nicht jede Nacht zu der Königin ging, sooft er es aber tat, in einen langen Mantel gehüllt, in der einen Hand eine Kerze, in der andern ein Stäblein tragend, vor das Schlafgemach Theudelindens trat und mit dem Stäblein ein- oder zweimal vor die Türe schlug, worauf ihm alsbald geöffnet und ihm die Kerze abgenommen wurde – so verschaffte er sich einen solchen Mantel, wie er denn auch von Gestalt genau dem Könige gleichkam.

Eines Nachts hüllte er sich in den Mantel, nahm Kerze und Stäblein zur Hand und tat zwei Schläge an die Türe des Schlafzimmers; sogleich ward ihm von der Kämmerin aufgetan, die Kerze abgenommen, und der Diener gelangte wirklich in das Bett der Königin, die ihn für keinen andern als ihren Gemahl hielt. Indessen fürchtete er, auf solches Glück möge schnelles Unheil folgen, machte sich daher bald aus den Armen der Königin und gelangte auf dieselbe Weise, wie er gekommen war, unerkannt in seine Schlafstube zurück.

Kaum hatte er sich entfernt, als sich der König selbst vornahm, diese Nacht seine Gemahlin zu besuchen, die ihn froh[370] empfing, aber verwundert fragte, warum er gegen seine Gewohnheit, da er sie eben erst verlassen, schon wieder zu ihr kehre. Agilulf stutzte, bildete sich aber augenblicklich ein, daß sie durch die Ähnlichkeit der Gestalt und Kleidung könne getäuscht worden sein; und da er ihre Unschuld deutlich sah, gab er als verständiger Mann sich nicht bloß, sondern antwortete: »Traut Ihr mir nicht zu, daß, nachdem ich einmal bei Euch gewesen, ich nicht noch einmal zu Euch kommen möge?« Worauf sie versetzte: »Ja, mein Herr und Gemahl, nur ich bitte Euch, daß Ihr auf Eure Gesundheit sehen möget.« – »Wenn Ihr mir so ratet«, sprach Agilulf, »so will ich Euch folgen und diesmal nicht weiter bemühen.« Nach diesen Worten nahm der König seinen Mantel wieder um und verließ voll innerem Zorn und Unwillen, wer ihm diesen Schimpf zugefügt habe, das Gemach der Königin. Weil er aber richtig schloß, daß einer aus dem Hofgesinde der Täter sein müßte und noch nicht aus dem Hause habe gehen können, so beschloß er, auf der Stelle nachzuspüren, und ging mit einer Leuchte in einen langen Saal über dem Marstall, wo die ganze Dienerschaft in verschiedenen Betten schlief. Und indem er weiter bedachte, dem, der es vollbracht, müßte noch das Herz viel stärker schlagen als den andern, so trat der König der Reihe nach zu den Schlafenden, legte ihnen die Hand auf die Brust und fühlte, wie ihre Herzen schlugen. Alle aber lagen in tiefer Ruhe, und die Schläge ihres Bluts waren still und langsam, bis er sich zuletzt dem Lager dessen näherte, der es wirklich verübt hatte. Dieser war noch nicht entschlafen, aber, als er den König in den Saal treten gesehn, in große Furcht geraten und glaubte gewiß, daß er umgebracht werden sollte; doch tröstete ihn, daß er den König ohne Waffen erblickte, schloß daher, wie jener näher trat, fest die Augen und stellte sich schlafend. Als ihm nun der König die Hand auch auf die Brust legte und sein Herz heftig pochen fühlte, merkte er wohl, daß dieser der Täter war, und nahm, weil er bis auf den Tag verschieben wollte, was er mit ihm zu tun willens hatte, eine Schere und schnitt ihm von der Seite über dem Ohr eine Locke von den langen Haaren ab. Darauf ging der König weg, jener aber, der listig und sinnreich war, stand unverzüglich auf, schnitt jedem seiner Schlafgesellen auf derselben Seite eine Locke mit der Schere und legte sich[371] hernach ganz ruhig nieder in sein Bett und schlief. Morgens in aller Frühe, bevor die Tore der Burg eröffnet wurden, befahl der König sämtlichem Gesinde, in seiner Gegenwart zu erscheinen, und begann sie anzusehen, um denjenigen, den er geschoren hatte, darunter auszufinden. Da er aber erstaunt sahe, daß den meisten unter ihnen auf derselben Stelle die Locke fehlte, sagte er zu sich selbst: »Der, den ich suche, ist von niederer Herkunft, aber gewiß von klugem Sinn.« Und sogleich erkennend, daß er ihn ohne großes öffentliches Ärgernis nicht mehr finden werde, sprach er laut zu ihnen allen: »Wer es getan hat, schweige und tue es nimmermehr!« Bei diesen Worten des Königs sahen sich alle Diener einander verwundert an und wußten nicht, was sie bedeuteten; außer dem einen, der das Stück begangen hatte, welcher klug genug war, sein Lebelang nichts davon laut werden zu lassen und sich an dem Glück zu genügen, das ihm widerfahren war.

Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. München [1965], S. 369-372.
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