430. Krothilds Verlobung

[395] Dem Könige Chlodowich hatten seine Botschafter von der Schönheit Krothildens, die am burgundischen Königshofe lebte, vieles erzählt. Er sandte also Aurelian, seinen Busenfreund, mit Gaben und Geschenken ab an die Jungfrau, daß er ihre Gestalt genauer erkundigte, ihr des Königs Willen offenbare und ihre Neigung erforsche. Aurelian gehorchte, machte sich auf nach Burgund, und wie er bald an die königliche Burg gelangt war, hieß er seine Gesellen, sich in einen nahen Wald bergen. Er selbst aber nahm das Kleid eines Bettlers an, begab sich nach dem Hof und forschte, wie er mit seiner künftigen Herrin ein Gespräch halten könnte. Dazumal war Burgund schon christlich, Franken aber noch nicht. Krothild ging nun, weil es eben Sonntag war, in die Messe, ihr Gebet zu verrichten; und Aurelian stellte sich zu den übrigen Bettlern vor die Türe hin und wartete, bis sie herauskäme. Wie also die Messe vorüber war, trat die Jungfrau aus der Kirche und gab, der Sitte nach, den Armen Almosen. Aurelian näherte sich und bettelte. Als ihm nun Krothild einen Goldgulden reichte, erfaßte er ihre bloße Hand unter dem Mantel hervor und drückte sie an seinen Mund zum Kuß. Mit jungfräulicher Schamröte übergossen, ging sie in ihre Wohnung, sandte aber bald eine ihrer Frauen, daß sie ihr den vermeintlichen Bettler zuführte. Bei seiner Ankunft frug sie: »Was fiel dir ein, Mann, daß du beim Empfahen des Almosens meine Hand vom Mantel entblößtest und küßtest?« Aurelian, mit Übergehung der Frage, sagte folgendes: »Mein Herr, der Frankenkönig, hat von deiner Herrlichkeit gehört und begehrt dich zur Gemahlin; hier ist sein Ring samt anderm Schmuck der[395] Verlöbnis.« Wie er sich aber wandte, den Sack zu langen, den er neben die Türe gelegt hatte und aus dem er die Brautgaben nehmen wollte, war der Sack heimlich gestohlen. Auf angestellte Untersuchung wurde er dennoch wiederentdeckt und dem Gast zugestellt, der nun, der geschehenen Verlobung sicher und gewiß, die Gaben der Jungfrau zustellte. Sie aber sprach dieses: »Nicht ziemt's einer Christenfrau, einen Heidenmann zu nehmen; fügt es jedoch der Schöpfer, daß er durch mich bekehret werde, so weigere ich mich nicht seinem Gesuch, sondern des Herrn Wille ergehe.« Die Jungfrau bat aber, alles, was sie gesagt, geheimzuhalten, und hinterlegte den Ring, den ihr Chlodowich gesandt hatte, in ihres Oheims Schatzkammer.

Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. München [1965], S. 395-396.
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