431. Die Schere und das Schwert

[396] Als Krothild, die alte Königin, sich der verwaisten Kinder Chlodomers, ihres Sohnes, annahm und sie zärtlich liebte, sah das, mit Neid und Furcht, König Childebert, ihr andrer Sohn; und er wollte nicht, daß sie mit der Gunst seiner Mutter einmal nach dem Reich streben möchten. Also sandte er insgeheim an König Chlotar, seinen dritten Bruder: »Unsre Mutter hält die Kinder unsers Bruders bei sich und denkt ihnen das Reich zu; komm schnell nach Paris, auf daß wir überlegen, was ratsamer zu tun sei: entweder ihnen das Haupthaar zu scheren, daß sie für gemeines Volk angesehn werden, oder sie zu töten und unsers Bruders hinterlassenes Reich unter uns zu teilen.« Chlotar freute sich der Botschaft, ging in die Stadt Paris und ratschlagte. Darauf beschickten sie vereint ihre Mutter und ließen ihr sagen: »Sende uns die beiden Kleinen, damit sie eingesetzt werden in ihre Würde.« Denn es hatte auch Childebert öffentlich geprahlt, als wenn er mit Chlotar darum zusammenkomme, um die Knaben im Reich zu bestätigen. Krothild, erfreut und nichts Arges ahnend, gab den Kindern zu essen und zu trinken und sprach: »Den Tod meines Sohnes will ich verschmerzen, wenn ich euch an seine Stelle erhoben sehen werde.« Die Knaben gingen also hin, wurden sogleich ergriffen, von ihren Spieldienern und Erziehern abgesondert und gefangengehalten.[396]

Darauf sandten Childebert und Chlotar einen Boten zur alten Königin mit einer Schere und mit einem entblößten Schwert. Der Bote kam und zeigte ihr beiderlei mit den Worten: »Durchlauchtigste Königin! Deine Söhne, meine Herren, verlangen deine Meinung zu wissen, was mit den beiden Kindern zu tun sei, ob sie mit abgeschnittenen Haaren leben, oder vom Leben zum Tod zu bringen seien?« Da erschrak die unglückliche Großmutter und zürnte, und das bloße Schwert und die Schere ansehend: »Lieber will ich«, sprach sie, »wenn ihnen ihr Reich doch nicht werden soll, sie tot sehen als geschoren.« – Bald darauf wurden die Knaben ertötet.

Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. München [1965], S. 396-397.
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