465. Die Königin im Wachshemd

[437] Ludwig der Deutsche hinterließ drei Söhne: Karl, Ludwig und Karlmann. Unter diesen nahm sich König Karl eine schöne und tugendsame Gemahlin, deren reines Leben ihr bald Neider am Hofe erweckte. Als der König eines Morgens früh in die Mette ging, folgte ihm Siegerat, sein Dienstmann, der sprach: »Herr, was meine Frau begeht, ziemt nicht Euren Ehren, mehr darf ich nicht sagen.« Der König blickte ihn an und sagte traurig: »Sage mir schnell die Wahrheit, wo du irgend etwas gesehen hast, was wider des Reiches Ehren stößt.« Der listige Alte versetzte: »Leider, ich werde nimmermehr froh, seit ich gesehen habe, daß meine Frau andere Männer minnet; lüge ich, so heißt mich an einen Baum hängen.«

Der König eilte schnell in seine Schlafkammer zurück und legte sich stillschweigend an der Königin Seite. Da sprach die Frau: »Des bin ich ungewohnt, warum seid Ihr schon wiedergekommen?« Er schlug ihr einen Faustschlag und sagte: »Weh mir, daß dich meine Augen je gesehen und ich meine Ehre durch dich verloren habe; das soll dir ans Leben gehen.« Die Königin erschrak und erweinete: »Schonet Eure Worte und haltet auf Eure Ehre! Ich sehe, daß ich verlogen worden bin; ist es aber durch meine Schuld, so will ich den Leib verloren haben.« Karl zwang seinen Zorn und antwortete: »Du pflegst unrechter Minne, wie möchtest du länger dem Reiche zur Königin taugen!« Sie sprach: »Ich will auf Gottes Urteil dingen, daß ich es nimmermehr getan habe, und vertraue, seine Gnade wird mir beistehen.«

Die Frau sandte nach vier Bischöfen, die mußten ihre Beichte hören und immer bei ihr sein; sie betete und fastete, bis der Gerichtstag kam. Bischöfe, Herzöge und eine große Volksmenge hatten sich versammelt, die Königin bereitete sich zu der schweren Arbeit. Als die edeln Herren sich dazwischenlegen wollten, sprach sie: »Das wolle Gott nicht, daß man solche Reden von mir höre und ich länger die Krone trage.« Da jammerte es allen Fürsten.

Die Fraue, mit auferhobenen Augen und unter manchem[437] guten Segen, schloff in ein Hemde, das darzu gemacht war. Gebete wurden gesungen und gelesen, und an vier Ecken zu Füßen und Händen zündete man ihr Hemde an. In kurzer Stunde brann es von ihr ab, das Wachs floß auf das Steinpflaster nieder; unversehrt, ohne Arg stand die Königin. Alle sprachen: »Gott Lob!« Der König ließ die Lügner an einen Galgen hängen. Die Königin aber schied fröhlich von dannen, tat sich des Reiches ab und diente Gott ihr übriges Leben.

Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. München [1965], S. 437-438.
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