479. Der unschuldige Ritter

[453] Kaiser Otto III., genannt das Kind, hatte am Hofe einen edlen Ritter, den langte die Kaiserin Maria, gebürtig von Aragonien, bittend an, daß er mit ihr buhlete. Der Ritter erschrak und sprach: »Das sei ferne von mir, das wäre meiner und meines Herrn Ehre viel zu nah«, und ging weg von der Kaiserin. Da sie sah, daß er also im Zorne von ihr ging, kam sie zum Kaiser, schmeichelte und sprach: »Was habt Ihr für Ritter an Eurem Hofe? Einer von ihnen wollte mich schänden.« Da dies der Kaiser hörte, ließ er von Stund an den Ritter fangen und ihm das Haupt abschlagen. Aber es soll aus seinem Halse kein Blut geflossen sein, sondern Milch. Der Kaiser, als er das Wunder sah, rief: »Hierum steht's nicht recht«, ließ die Kaiserin vorfordern und fragte sie hart um die Wahrheit. Sie fiel bestürzt zu Fuß und bat um Gnade; er aber als ein gestrenger Richter, nachdem er die Lügen erfahren, ließ sein Weib dieser Untat wegen fangen und brennen, blieb auch ohne Weib und Erben sein Lebetage.

Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. München [1965], S. 453.
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