480. Kaiser Otto hält Witwen- und Waisengericht

[453] Otto III. hatte ein unstet Weib, die warb an einen Grafen, daß er mit ihr buhlen sollte; das wollte der Graf nicht tun und seinen Herren nicht entehren, noch sich selber. Da gab die Königin diesen Grafen an beim König und sprach: »Der Graf hat mich meiner Ehren angemutet.« Der König hieß in jähem Zorn den Grafen töten. Indem er aber zum Tod geführt wurde, begegnete ihm sein Ehegemahl; der offenbarte er, wie ihn die Königin böslich um Frömmigkeit, Biederkeit und Leben bringe, und ermahnte sie, nach seinem Tode das glühende Eisen zu tragen auf seine Unschuld. Nun ward dem Grafen sein Haupt abgeschlagen, und eine Zeit darauf geschah's, daß der Kaiser ein Gericht berief und dazu Witwen und Waisen, daß nach dem[453] Recht gerichtet würde. Als nun das Gericht besetzt war, trat des Grafen Gemahlin vor, trug das Haupt ihres Mannes heimlich unterm Gewand, kniete nieder und forderte Hilfe und Recht. Hierauf fragte sie, welchen Tod zu leiden der schuldig sei, der einen andern unschuldig enthaupten lasse. Der Kaiser sprach: »Man soll ihm wieder sein eigen Haupt abschlagen.« Da zog sie des Grafen Haupt hervor und sprach: »Herr, du selbst bist es, der diesen meinen Mann unschuldig hast töten lassen«, und offenbarte der Königin Falschheit. Der Kaiser erschrak und forderte Beweis. Die Witwe wählte das Gottesurteil und trug das glühende Eisen, daß ihr nie kein Leid davon geschah. Da gab sich der Kaiser in der Frauen Gewalt, daß sie ihn töten lassen könne nach dem Recht. Die Herren aber legten sich hinein und erwarben dem Kaiser von der Frauen einen Aufschlag des Gerichts zehen Tage, darnach acht Tage, darnach sieben Tage, darnach sechs Tage. Und der Kaiser gab der Gräfin um jeden Aufschlag eine gute Feste, die haben davon den Namen; eine heißt die Zehent, die andere die Acht, die dritte die Siebent, die vierte die Sechst und liegen im Lümer Bistum. Und eh die Tage vollgingen – da die Witwe auf des Kaisers Haupt bestand, es wäre denn, daß die Hure sterbe, und damit allein könne sich der König lösen –, so ließ er die Königin fahen und lebendig vergraben; mit den vier Schlössern hatte er sich selber gelöst.

Quelle:
Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsche Sagen. Zwei Bände in einem Band. München [1965], S. 453-454.
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