Das zehnte Kapitel.

[203] Simplex, der Eremit, wird ein Wallbruder

Und gerät wiederum ziemlich ins Luder.


Das Leben des heiligen Alexii kam mir im ersten Griff unter die Augen, als ich das Buch aufschlug; da fand ich, mit was vor einer Verachtung der Ruhe er das reiche Haus seines Vatters verlassen, die heiligen Örter hin und wieder mit großer Andacht besuchet und endlich beides, seine Pilgerschaft und Leben, unter einer Stiegen in höchster Armut mit unvergleichlicher Gedult und wunderbaren Beständigkeit seliglich beschlossen hätte. »Ach!« sagte ich zu mir selbst, »Simplici, was tust du? Du liegst hier auf der faulen Bärenhaut und dienest weder Gott noch Menschen! Wer allein ist, wann derselbe fället, wer wird ihm wieder aufhelfen? ist es nicht besser, du dienest deinen Nebenmenschen und sie dir hingegen hinwiederum, als daß du hier ohn alle Leutseligkeit in der Einsame sitzest wie eine Nachteule? Bist du nicht ein todes Glied des menschlichen Geschlechts, wann du hier verharrest? Und zwar wie wirst du den Winter ausdauren können, wann dies Gebürge mit Schnee bedeckt und dir nit mehr wie jetzt von den Nachbarn dein Unterhalt gebracht wird? Zwar diese ehren dich jetzunder wie ein Orakul; wann du aber verneujahren hast, werden sie dich nicht mehr würdigen, über eine Achsel anzuschauen, sondern anstatt dessen, das sie dir jetzt hertragen, dich vor ihren Türen mit ›Helf dir Gott!‹ abspeisen. Vielleicht ist dir Baldanders darum persönlich erschienen, damit du dich beizeiten vorsehen und in die Unbeständigkeit dieser Welt schicken sollest.« Mit solchen und dergleichen Anfechtungen und Gedanken ward ich gequälet, bis ich mich endlich entschloß, aus einem Wald- ein Wallbruder oder Pilger zu werden.

Demnach ertappte ich unversehens meine Schere und stutzte meinen langen Rock, der mir allerdings auf die Füße gieng und, solang ich ein Einsiedel gewesen, anstatt eines Kleides, auch Unter- und Oberbetts gedient hatte; die abgeschnittene Stück aber satzte ich darauf und darunter, wie es sich schickte, doch[203] also, daß es mir zugleich Säcke und Taschen abgab, dasjenige, so ich etwan erbettlen möchte, darin zu verwahren; und weil ich keinen proportionierlichen Jakobsstab mit feinen gedreheten Knöpfen haben konnte, überkam ich einen wilden Äpfelstamm, damit ich einen, wanngleich er seinen Degen in der Faust gehabt, gar wohl schlafen zu legen getrauet, welchen böhmischen Ohrleffel mir folgends ein frommer Schlosser auf meiner Wanderschaft mit einer starken Spitze trefflich versehn, damit ich mich vor den Wölfen, die mir etwan unterwegs begegnen möchten, erwehren konnte.

Solchergestalt ausstaffiert, machte ich mich in das wilde Schapbach, und erbettlete von selbigem Pastor einen Schein oder Urkund, daß ich mich unweit seiner Pfarr als ein Eremit erzeiget und gelebet hätte, nunmehr aber willens wäre, die heilige Örter hin und wieder andächtig zu besuchen, unangesehen mir derselbe vorhielte, daß er mir nicht recht traue. »Ich schätze, mein Freund,« sagte er, »du habest entweder ein schlimm Stück begangen, daß du deine Wohnung so urplötzlich verlässest, oder habest im Sinn, einen andern Empedoclem Agrigentinum abzugeben, welcher sich in den Feuerberg Aetnam stürzete, damit man glauben sollte, er wäre, weil man ihn sonst nirgends finden könnte, gen Himmel gefahren. Wie wäre es, wann es mit dir eine von solchen Meinungen hätte und ich dir mit Erteilung meiner bessern Zeugnus darin hülfe?« Ich wußte ihm aber mit meinen guten Maulleder unter dem Schein frommer Einfalt und heiliger aufrichtiger Meinung dergestalt zu begegnen, daß er mir gleichwohl angeregte Urkund mitteilete; und bedünkte mich, ich spürete einen heiligen Neid oder Eifer an ihm, und daß er meine Wegkunft gern sehe, weil der gemeine Mann wegen eines so ungewöhnlichen strengen und exemplarischen Lebens mehr von mir hielt als von etlichen Geistlichen in der Nachbarschaft, unangesehen ich ein schlimmer liederlicher Kund war, wann man mich gegen den rechten wahren Geistlichen und Dienern Gottes hätte abschätzen sollen.

Damal war ich zwar noch nicht so gar gottlos, wie ich hernach ward, sondern hätte mich noch wohl vor einen solchen Vergangenen, der eine gute Meinung und Vorsatz [hat]. Sobald ich aber mit andern alten Landstörzern bekannt ward und mit denselben vielfältig umgieng und konversierte, ward ich je länger je ärger, also daß ich zuletzt gar wohl vor einen Vorsteher, Zunftmeister und Präzeptor derjenigen Gesellschaft hätte passieren mögen, die aus der Landfahrerei zu keinem andern Ende ein Profession machen, als ihre Nahrung damit zu gewinnen.[204] Hierzu war mein Habit und Leibesgestalt fast bequem und beförderlich, sonderlich die Leut zur Freigebigkeit zu bewegen. Wann ich dann in einen Flecken kam oder in eine Stadt gelassen ward, vornehmlich an den Sonn- und Feiertägen, so kriegte ich gleich von Jungen und Alten einen größern Umstand als der beste Markschreier, der ein paar Narren, Affen und Meerkatzen mit sich führet. Alsdann hielten mich teils wegen meines langen Haars und wilden Barts vor einen alten Propheten, weil ich, es war gleich Wetter, wie es wollte, barhäubtig gieng, andere vor sonst einen seltsamen Wundermann, die allermeiste aber vor den ewigen Juden, der bis an den Jüngsten Tag in der Welt herumlaufen soll. Ich nahm kein Gelt zum Almosen an, weil ich wußte, was mir solche Gewohnheit in meiner Eremitage genutzt; und wann mich jemand dessen etwas zu nehmen dringen wollte, sagte ich: »Die Bettler sollen kein Gelt haben!« Damit brachte ich zuwege, wo ich etwan ein paar Heller verschmähete, daß mir hingegen beides, an Speise und Trank, mehrers geben würde, als ich sonst um ein paar Kopfstück hätte kaufen mögen.

Also marschierte ich die Gutach hinauf über den Schwarzwald auf Villingen, dem Schweizerland zu, auf welchem Weg mir nichts Notabels oder Ungewöhnliches begegnete, als was ich allererst gemeldet. Von dannen wußte ich den Weg selbst auf Einsiedlen, daß ich deswegen niemand fragen dorfte; und da ich Schaffhausen erlangte, ward ich nicht allein eingelassen, sondern auch nach vielem Fatzwerk, so das Volk mit mir hatte, von einem ehrlichen wohlhäbigen Burger freundlich zur Herberge aufgenommen; und zwar so war es Zeit, daß er kam und sich meiner als ein wohlgereister Junker, der ohn Zweifel in der Fremde auf seinen Reisen viel Sauers und Süßes erfahren, erbarmete, weil gegen Abend etlich böse Buben anfiengen, mich mit Gassenkot zu werfen.

Quelle:
Grimmelshausens Werke in vier Teilen. Band 1, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart o.J. [1921], S. 203-205.
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