18.

Die Wunder bey dem Tode Christi

[144] O Gott du grosser Gott:


1.

Reiß Erder: Himmel brich: ihr Friedens-Engel klaget

Der Fürst der Welt vergeht! saust Lüffte/ Menschen zaget!

Der alles trägt verfällt/ die Ehre wird veracht!

Der alle deckt ist nackt/ der Tröster ist verschmacht.


2.

Der Höchste steht am Holtz genagelt an die Aeste.

Die Hände sind durchbohrt/ durch die die Wolcken feste

In ihren Standt gesetzt/ der Leib ist eine Wund.

Von Fuß auff/ Scheitel ab/ ist nichts an Ihm gesund.


3.

Das Licht der Welt erblasst/ gleich als der Tag sich theilet/

Die Sonne wird mit Nacht im Mittag übereilet/

Vnd lescht die Flammen auß/ das grosse Land erschrickt/

In dem es kaum sich selbst in Finsternüß erblickt.


4.

Doch geht dem Mörder auff ein neues Licht im Hertzen/

Der Gottes Kind geschmäht/ rufft itzt in heissen Schmertzen

Den grossen König an/ vnd wil (trotz Creutz vnd Pein!)

Nicht Mörder! sondern mehr ein Lebens Lehrer seyn.


5.

Der Mittler eylt zum End' Er wil den Todt vmbfangen/

Vnd rufft Ihm überlaut/ ob gleich die Krafft entgangen/

Ob sein zufleischter Leib hier gantz verbluttet steht/

Hat Er die süsse Stimm doch sterbend auch erhöht.


6.

Der Vorhang/ der das stifft des innern Tempels decket/

Reist oben ab entzwey: was vor vns ward verstecket;

Steht offen! last vns gehn! diß Wunder zeigt vns frey/

Das nichts mehr heiligs im entweyten Tempel sey.
[144]

7.

Der Erden Grund erkracht/ die trotze Felsen springen/

Die Klippen spalten auff/ die schnellen Ritze dringen

Schir biß in Mittelpunct/ die Länder fallen ein/

Vnd wollen Zeugen nur deß grossen Mordes seyn.


8.

Der Tod verleurt sein Recht. Der Grüffte Marmor zittern/

Die Gräber brechen auff/ der Heilgen Leiber schüttern/

Vnd schaun mit ihrem Geist vermählt das Opffer an/

Das Gottes heissen Grimm der Rach' außleschen kan.


9.

Volck/ Hauptmann/ vnd Soldat bewegt durch solche Zeichen/

Bedenckt die grimme That/ die Hertzen selbst erweichen/

Ach warlich! rufft man ietzt/ der war ein frommer Mann/

Vnd Gottes Sohn/ an dem das Recht nichts tadeln kan.


10.

Man bricht weil schon der Tag sich gegen Abend neiget/

Der Mörder Bein entzwey/ ein neues Wunder zeiget

Den Grund der Prophezey! Ihm den der Tod entsetzt/

Wird von der grimmen Faust nicht einig Bein verletzt.


11.

Doch durch die blasse Seit wird Ihm ein Speer gedrungen/

Auß welcher bald für vns ein Gnaden-Brunn entsprungen/

Ein Blutt vnd Wasserstromm/ der vnser Sünd abwäscht/

Vnd die entbranndte Glut der schwartzen Hell' außlescht.


12.

Vnd zweifelt noch ein Mensch/ daß der Versprochne kommen!

Daß Er der Menschen Schuld auff seinen Halß genommen!

Wenn Himmel/ Lufft vnd Sonn/ vnd Erd vnd Grab bewehrt/

Das durch Ihn Grab vnd Tod vnd Helle sey verhert.

Quelle:
Andreas Gryphius: Gesamtausgabe der deutschsprachigen Werke. Band 1, Tübingen 1963, S. 144-145.
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