307. Das freundliche Gesicht zu Magdeburg.376

[254] Am westlichen Ende der großen Münzstraße, der Königlichen Bank gegenüber, steht ein ansehnliches Haus, über dessen Thüre man noch heutigen Tages einen menschlichen Kopf mit der Unterschrift: Das freundliche Gesicht, sieht. Die Sage giebt von der Entstehung dieses Bildes folgende Ursache an. Es soll vor langen Jahren zu Magdeburg ein reicher Kaufmann gelebt haben, der eine Frau besaß, die auf einmal beständig Unzufriedenheit und[254] Mißmuth äußerte, ohne daß ihr Mann die Ursache desselben erfahren konnte. Er hat sich demzufolge viele Mühe gegeben, seine Frau auf bessere Laune zu bringen, allein umsonst. Endlich hat er sich an eine Kartenschlägerin gewendet und von dieser erfahren, daß ein schönes Haus mit kostbaren Möbeln und Geräth der Gegenstand der Wünsche seiner Frau sei. Da ist ihm auch sehr bald ein Licht aufgegangen und er hat gewußt, daß seine Frau sich das ebenso schön gebaute als kostbar eingerichtete Haus eines andern Kaufmanns, der ihm gerade gegenüber wohnte, wünsche. Er hat also nichts eiliger zu thun gehabt, als bei demselben anzufragen, ob er es ihm nicht vielleicht verkaufen wolle. Allein umsonst, es war ihm nicht feil. Hierauf hat er seiner Gattin angeboten, das Haus, welches sie selbst bewohnten, wegreißen und von einem geschickten Baumeister ein neues aufführen zu lassen, welches dem gegenüberliegenden genau ähnlich, oder auch noch schöner ausfallen sollte. Allein dieser Vorschlag hat ihren Beifall auch nicht gefunden, weil sie einwandte, dazu gehörte viel Zeit und sie wolle eben jenes und kein anderes haben. Also hat er schon alle Hoffnung aufgegeben, ihre Wünsche zu erfüllen, da ist auf einmal der Nachbar selbst gekommen, als gerade die besagte Frau vor Aerger, daß sie das Haus nicht bekommen konnte, krank im Bette lag, und hat ihnen angeboten, er wolle ihnen freiwillig das Haus für einen weit geringern Preis, als es werth sei, abtreten, wenn sie sich entschließen wollten, ein kleines Männchen, welches er an der Hand mitgebracht hatte, im Hause als Hausgenossen zu behalten, ohne ihn je zu fragen: wer er sei und was er treibe? Beide gingen auf die Bedingung ein, der Handel ward abgeschlossen und der Sage nach soll jener unbekannte fremde Gesell noch über ein Jahrhundert lang bei dieser Familie und ihren Kindern und Enkeln im Hause gewohnt haben. Der erfreute Kaufmann ließ aber zum Andenken an dem Hause den obgedachten Kopf anbringen, welcher anzeigen sollte, daß mit dem Ankauf des Hauses auch das freundliche Gesicht wieder in demselben eingezogen sei.

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Nach Relßieg Bd. I. S. 455 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 254-255.
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