430. Woher die Oberstadt Mühlhausen ihr Wasser erhält.519

[368] Die Stadt Mühlhausen in Thüringen zerfällt in die Ober- und Unterstadt, erstere ist durch die Breitsülze, letztere durch die Schwemmotte, die vor ihrem Einflusse in die Stadt das Popperoder Wasser heißt, bewässert. Früher litt jedoch die Stadt sehr an Wassermangel, und darum machte der Magistrat der alten Reichsstadt Mühlhausen um Pfingsten des Jahres 1292 bekannt, daß, wer vermöge, irgend eine Quelle in die Oberstadt, die aus Wassermangel nicht selten ein Raub der Flammen ward, zu leiten, reichlichen Lohn erhalten und, falls ein schweres Verbrechen an ihm hafte, sich seines Leibes und Lebens versichert halten solle. Es saß aber zu selbiger Zeit auf dem Rabenthurme, welcher jetzt der Adlerthurm genannt wird, ein Mönch aus dem eichsfeldischen Kloster Reifenstein wegen Brandstiftung und Schändung einer patricischen Jungfrau auf Leben und Tod. In den Tagen seiner Freiheit hatte er öfter, wenn er in Angelegenheiten seines Ordens nach Pfaffenrode und St. Daniel gepilgert, zwischen einem Gehügel eine sprudelnde Quelle bemerkt. Als nun der Aufruf des Stadtraths auch in seinen Kerker drang, da dachte er, ob es nicht möglich sei irgend einen Plan zu ersinnen, wie das Wasser jener Quelle in die Stadt zu führen sei. Allein die Quelle sprudelte in einem tiefen Thale und zwischen ihr und der Stadt lag eine Hügelkette, also sah er wohl ein, daß ohne dämonische Hilfe ihm dieses Kunststück nicht möglich werden könne. Gleichwohl konnte er aber auch den Gedanken nicht aufgeben, der allein ihm die Möglichkeit einer Rettung von dem drohenden Tode verhieß, und so kam er auf den Gedanken, den Teufel, der schon so Vielen geholfen, zu seinem Beistande anzurufen. Kaum war aber der gottlose Gedanke in seiner Seele aufgestiegen, als auch schon der Böse vor ihm stand. Zwar wollte der Mönch in seiner Herzensangst ihn durch Gebet verscheuchen, allein er war schon durch seine früheren Schandthaten zu sehr in den Klauen desselben, als daß er sich auf ein Gebet hätte besinnen können. Genug, der Teufel versprach ihm, die fragliche Quelle in die Oberstadt zu leiten, sobald der Mönch ihm seine Seele opfern werde, und nach flüchtigem Bedenken unterschrieb der leichtsinnige Mönch mit einigen Tropfen seines Blutes den vorgelegten Contract. Als nun der Böse unter furchtbarem Sturmgeheul durch das enge Gitterfenster verschwand, ließ er seinem Opfer eine große Pergamentrolle zurück, und als der Mönch beim ersten Gruß des dämmernden Tages das verhängnißvolle Blatt entfaltet hatte, sah er mit freudigem Schrecken auf demselben den Weg verzeichnet, auf welchem[368] jene Quelle ohne große Schwierigkeit über Hügel und durch Schluchten in die Oberstadt zu leiten sei. Sogleich eröffnete der schlaue Mönch dem hochedlen Rath sein Begehren; die von ihm heißersehnte Freiheit ward ihm zugesichert, wenn er seinen Plan ausführen könne, und ihm eine Schaar rüstiger Arbeiter zu Gebote gestellt. Und siehe, bald strömte das Krystall der Breisülzenquelle durch das ihr bereitete Bett über Hügel, durch Gärten und Thäler lustig dahin, und somit war die Aufgabe gelöst, der Mönch aber war sofort verschwunden und kein Auge hat ihn wieder gesehen. Jener Born aber, der in einer kaum halbstündigen Entfernung von der Stadt dem Schooße der Erde entquillt, braucht einen fast drei Stunden langen Weg, ehe er jetzt die Oberstadt erreicht.

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Nach Thüringen und der Harz Bd. VI. S. 6 etc.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 368-369.
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