444. Das weinende und lachende Brautpaar im Dom zu Naumburg.533

[379] Im Dome zu Naumburg findet man zwei Personen in Stein gehauen, von denen die eine lacht, die andere weint. Nach der einen Sage sollten diese Figuren zwei Verlobte darstellen, von denen die eine, der Bräutigam, sich durch kein Bitten, Weinen und Flehen seiner Braut von seiner Reiselust abhalten ließ und fröhlich und wohlgemuth in die weite Welt zog; inzwischen begab sich die herzlich betrübte Braut ins Kloster, läßt den berühmten Dom bauen und verlacht hernachmals den wiederkommenden und nunmehr herzlich betrübten Bräutigam mit gleicher Beständigkeit. Nach einer andern Sage ist aber die Braut selbst die Ursache des Reisens des Verlobten gewesen, sie hat gesagt, ihr Bräutigam müsse sich erst in der Welt umsehen und Erfahrung sammeln, ehe er in den Stand der heiligen Ehe treten könne. Dies ist freilich demselben nicht recht gewesen, denn er hat mehr das reiche Erbe des Mädchens als dieses selbst sein eigen nennen wollen. Da sie aber ihren Vater für ihre Meinung zu gewinnen wußte, blieb dem Junker nichts anders übrig als sich zu fügen. Er ist also fortgegangen, aber nicht allzuweit, sondern hat sich in den benachbarten Städten herumgetrieben und sich möglichst wohl sein lassen. Da ist die Nachricht zu ihm gedrungen, ihr Vater sei plötzlich gestorben, und sofort ist er nach Hause geeilt, um sich das reiche Erbe nicht entgehen zu lassen. Er fand aber seine Braut im Kloster und als er bis ins Sprechzimmer drang, um sein Schicksal auf ihrem eigenen Munde zu erfahren, da ist sie ihm mit lachendem Gesichte entgegengetreten[379] und hat ihm erklärt, sie habe sich den Herrn zum Bräutigam erwählt und wolle von ihrem Gelde demselben einen Tempel erbauen. So hat sie denn den Dom erbauen lassen und sich als Lachende, ihren Bräutigam aber als Weinenden in Stein darin anbringen lassen.

533

Etwas verschieden erzählt bei Ziehnert, Bd. III. S. 29 etc. S. Berckenmeyer, Antiquarius S. 658.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 379-380.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Sagenbuch des Preußischen Staats
Sagenbuch des Preußischen Staats: Erster Band
Sagenbuch des Preußischen Staats: Zweiter Band
Sagenbuch des Preußischen Staats: Erster Band
Sagenbuch des Preußischen Staats: Zweiter Band