749. Die Stiftung des Nonnenklosters zu Schildesche.868

[706] Im Wessagagau lebte eine edle Matrone, Namens Marschwidis, welche irdische Güter und Schmuck im Ueberfluß hatte. Sie war die einzige Tochter und Erbin reicher Eltern, welche sie aus Vorsorge, daß das Geschlecht nicht aussterbe, im jugendlichen Alter mit einem adeligen Manne verheiratheten, der in Osnabrück wohnte. Doch die Ehe blieb kinderlos und der Mann starb nach wenigen Jahren. Nun kam der jungen Wittwe der Gedanke ein, ein Nonnenstift für Töchter der Edelinge (Adeligen) zu gründen und all ihr Hab und Gut dieser Stiftung zu schenken. Ihre Verwandten suchten sie zwar zu bereden, zur zweiten Ehe zu schreiten, doch Marschwidis antwortete: »Gott hat mir offenbart, ich soll eine klösterliche Wohnung zur Ehre der heil. Gottesgebärerin Maria und des heil. Johannes des Täufers stiften und dies werde ich treulich erfüllen.« Hierauf wechselte Marschwidis ihre weltliche Kleidung mit schwarzer Nonnentracht und einer schwarzen Haube, reisete nach Paderborn zum Bischof Dudo und trug ihm ihren Entschluß vor. Der Bischof bestärkte sie in ihrem Vorhaben und ertheilte ihr die Erlaubniß, das Stift dahin zu verlegen, wo es ihr am Besten scheine. Dann vermittelte er bei dem deutschen Kaiser Otto I., der sich gerade zu Corvei aufhielt, daß derselbe versprach, die neue Stiftung in Schutz zu nehmen und ihr bedeutende Gerechtsame verleihen zu wollen.

Jetzt beschloß Marschwidis, das Stift nicht in Altenschildesche, sondern in Neuenschildesche zu gründen und ließ dort die Stiftskirche und die Stiftshäuser bauen. Nun hatte aber kein Kloster, kein Stift zur damaligen Zeit ein rechtes Ansehen, wenn nicht Gebeine heiliger Personen in demselben ruheten. Es fehlten aber der frommen Marschwidis zum Heil ihrer Stiftung die Gebeine Johannis des Täufers, dem zu Ehren sie das Werk gestiftet hatte. Die Gebeine des Heiligen waren aber in Rom. Es trat also die Marschwidis in Begleitung ihres Kaplans und eines mit Kostbarkeiten beladenen Esels die Reise dorthin an, erfreute den Papst durch die mitgebrachten Geschenke und bat ihn dann fußfällig um die Gebeine des heil. Johannes. Der heilige Vater willfahrte ihr auch und gab Befehl, ihr dieselben einzuhändigen, allein seine Diener hintergingen ihn und die fromme Matrone, denn sie übergaben ihr ein verschlossenes Kästchen mit fremden Gebeinen. Marschwidis machte sich, natürlich nichts ahnend, auf den Rückweg nach Hause und trug in treuer Sorgfalt das Kästchen an einem Halsbande[706] auf der Brust. Als sie aber nach dem Wessagagau zurückgekehrt war, da erschien ihr der heil. Johannes des Nachts und sprach: »Ich bin nicht bei Dir!« Marschwidis kehrt um und geht nach Rom zurück und macht dem Papste wegen des ihr gespielten Betruges bittere Vorwürfe. Nun werden ihr die wahren Reliquien gegeben. In der nächsten Herberge erscheint aber der heil. Johannes der frommen Frau zum zweiten Male und spricht jetzt: »Gehe hin in Frieden, denn ich bin bei Dir!« Aber der Teufel, dem die Gebeine des heil. Johannes ein Greuel sind, will die Pilgerin nicht unangefochten ihres Weges ziehen lassen. Er wirft, als sie in der Schweiz über die Alpen reist, den Esel von der Spitze eines Felsens in einen tiefen Abgrund. Beinahe wäre jetzt aber seiner Herrin die Geduld gerissen. Sie haderte mit dem heil. Johannes und sprach: »Deinen Esel hast Du verloren, das Silber und Deine Wachslichter sind dahin; nun wirst Du im Finstern sitzen müssen, wie Du es verdient hast!« Betrübt zieht sie zur nächsten Herberge; doch, o Wunder, nicht lange währt's, so kommt der mit Sack und Pack beladene Esel wohlbehalten aus dem Abgrunde hervor, läuft eilig zur Herberge und klopft mit dem Fuße an die Thür. Der Kaplan eilt hin, um zu öffnen, da springt der Esel freudig herein und wirft den Geistlichen der Länge nach zu Boden. Fröhlich macht sich am andern Morgen Marschwidis auf die Weiterreise und langt glücklich mit ihrem Heiligthum in Schildesche an. Das Stift, welches aus 17 Jungfrauen altadeligen Geschlechts bestand, erhielt am 25. September 940 sein erstes Privilegium von Kaiser Otto I., und bestätigt und erweitert ward es am 7. Mai 992 durch Otto II. Es bestand bis zum Jahre 1542, wo es die Reformation annahm.

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S. Vormbaum S. 54.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 1, Glogau 1868/71, S. 706-707.
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