92. St. Rusticus und St. Goar in Trier.

[106] (Poetisch behandelt von Ziehnert Bd. I. S. 161 etc.)


In der Mitte des 6. Jahrhdts. lebte zu Trier ein Erzbischof Namens Rusticus, ein ziemlich unheiliger Mann, denn er liebte Prunk, Schwelgerei und war sogar ein großer Freund des schönen Geschlechts. Um dieselbe Zeit aber hielt sich im Trier'schen ein armer, vom Volke als Heiliger verehrter Mann Namens Goar auf, der im Bettlergewande und zerrissenen Schuhen durch's Land zog und durch Händeauflegen und mit Gebet Menschen und Vieh kurirte. Dies verdroß den Erzbischof, denn er war neidisch auf ihn, weil alle Welt nur von diesem Wundermann sprach und an den Oberhirten des Trier'schen Erzbisthums kaum noch Jemand dachte. Er befahl also denselben zu ihm zu führen und als St. Goar in seinem zerlumpten Mantel vor ihm stand, da hieß er ihn seinen Mantel ausziehen und als dieser sich damit ausredete, daß ja kein Nagel da sei, an welchen er ihn aufhängen könne, da meinte Rusticus höhnisch, einem Wunderthäter, wie er sei, werde es nicht schwer fallen, auch in einem leeren Raume einen Gegenstand zu entdecken, an welchen er den Mantel hängen könne. Da sprach Goar: »Ganz recht, das macht mir auch keine Sorge, ich werde meinen Rock an dem Sonnenstrahl hier aufhängen,« und o Wunder! er nahm den Mantel ab und plötzlich hing derselbe an dem Sonnenstrahl wie an einem Eisenstabe. Da dachte Rusticus nach, wie er dem heiligen Manne ein anderes Bein stellen möge. In demselben Augenblicke trat der Sacristan des Doms herein, ein nacktes Wickelkind auf dem Arme, und sprach: »Seht, hoher Herr, dieses Würmlein fand ich eben im Dome am Hochaltar. Wer mag das Kind dort ausgesetzt haben?« Da gerieth der Kirchenfürst in schweren Zorn und rief: »Weh, wer das gethan hat, der soll es schwer büßen; jetzt, Freund Wundermann, kannst Du Deine Weisheit zeigen; sage uns, wer die gottlose Mutter des Kindes ist!« Da schaute sich St. Goar das Kindlein eine kurze Weile an, und sprach: »Zwar ist die Wahrheit ein bitteres Kraut, aber es muß verschluckt werden. Die Mutter des Kindes heißt Flavia, die, weil sie ihr Buhle in Noth verlassen, dasselbe ausgesetzt hat; der Vater zu dem Kinde aber bist Du selbst, Erzbischof Rusticus!« Da sank der gottlose Mann wie vom Blitz getroffen zur Erde nieder und[106] legte seine Würde ab und diente noch zehn Jahre lang in einem Kloster zu Trier dem Herrn als niedriger Mönch. Gleichwohl ward er aber nach seinem Tode vom Papste heilig gesprochen.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 106-107.
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