141. Das Kreuz zu Tünkel.

[158] (S. Merck S. 155.)


Oberhalb Berncastel erheben sich mächtige hohe Felsen und auf der Spitze des höchsten von ihnen steht ein verwittertes, bemoostes Kreuz, von dem man nicht begreift, wer es auf so gewaltiger Höhe einst aufgerichtet haben mag. Man erzählt sich über dasselbe aber folgende Geschichte.

Einst soll auf einer der Burgen des Hunsrück ein wilder böser Ritter gehaust haben, der sich namentlich durch Härte gegen seine Unterthanen und Feindschaft gegen die Geistlichkeit auszeichnete. Nebenbei war er auch ein eifriger Jäger, der aber freilich nicht darnach fragte, ob er die Felder seiner Bauern und ihre Ernten verwüstete, wenn er querfeldein den Hirschen und Ebern nachjagte. Einstmals jagte er auch in dem reichen Felsgebirge zwischen Longcamp und Berncastel; im Nachsetzen eines feisten Hirsches merkte er aber nicht, daß es finster und immer finsterer wurde. Die Nacht war eingebrochen ehe er es sich versah, und rathlos, des Weges unkundig, irrte er umher, stieg von Fels zu Fels und fand nirgends einen Ausweg. Da plötzlich sah er in der Tiefe ein Lichtlein flackern. Eiligst verfolgte er den Pfad in der Richtung, von wo dasselbe herleuchtete, allein immer weiter schwand es und immer weiter und der Ritter eilte ihm rastlos nach, bis der trügerische Führer auf einmal verschwand. In diesem Augenblicke theilten sich die Wolken, der Mond trat strahlend hervor und mit Entsetzen sah sich der Ritter auf der Spitze eines ungeheuren Felsens, von welchem er, wie weiland Kaiser Maximilian, weder rück- noch vorwärts konnte. Da erkannte der Sünder bei diesem haarsträubenden Anblick zum ersten Mal das Gericht Gottes, er fiel auf seine Kniee und sandte ein inbrünstiges Gebet zum Himmel. Dann gelobte er, ein vollendet guter Mensch zu werden und zur Ehre des Herrn ein Kreuz auf dieser Spitze errichten zu lassen. So harrte er bis zum[158] andern Morgen und siehe, eine unsichtbare Hand geleitete ihn den Felsen hinab. Von Stund an besserte er sich, erfüllte sein Gelübde und ließ das Kreuz dort oben errichten. Sein Haar aber war, so berichtet die Sage, in dieser einen Nacht schneeweiß geworden.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 158-159.
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