334. Die Vexirlinde bei Hermsdorf.

[390] (Nach Haupt Bd. I. S. 101.)


Am Wege von Görlitz nach Hermsdorf steht mitten auf freiem Felde eine ziemlich große Linde mit einer mächtigen Krone, sie heißt die Vexirlinde, weil man glaubt, sie habe die Eigenschaft, die Leute, welche des Nachts in ihre Nähe kämen, so verdreht im Kopfe zu machen, daß sie von ihrem Wege abkommen und immer im Kreise um sie herumlaufen, ohne sich eigentlich weit von ihr entfernen zu können. Als Ursache dieses Zauberbannes wird nun folgende Begebenheit erzählt. Zur Zeit als die Hussiten über das böhmische Gebirge in die Lausitz einbrachen und Alles mit Feuer und Schwert verheerten, war auch ein Bauer aus Hermsdorf, nachdem er Alles im Stiche gelassen, in die Görlitzer Heide geflüchtet. Als nun die gefürchteten Feinde wieder weg waren, kehrte er zurück, um nach seinem Besitzthum zu sehen, fand aber Alles niedergebrannt. Als er nun auf der Brandstätte seines Hauses rathlos dastand, fiel sein Blick auf die auf dem Felde ehedem seiner frühern Behausung gegenüber stehende Linde und er sah an derselben eine menschliche Figur am Boden liegen. Er ging darauf zu und fand eine fremde Frau mit schrecklich verzerrten Zügen auf dem Boden hingestreckt, die[390] mit den Händen in der Erde wühlte und Töne des Jammers ausstieß. Er glaubte erst eine Wahnsinnige vor sich zu haben, als er ihr aber freundlich zuredete, erhob sie sich und gestand, sie sei, als sie wie er vor dem erbarmungslosen Feinde geflüchtet, von den Ihrigen getrennt worden und habe an dieser Stelle eine vorzeitige Entbindung gehabt, vor Kälte, Hunger und Durst halb von Sinnen habe sie Hand an ihr Kind gelegt und dasselbe erdrosselt, allein sie fühle, daß sie dasselbe nicht lange überleben werde: und so war es auch, sie hatte kaum ihr Verbrechen gestanden, da stürzte sie wie vom Blitz getroffen zur Erde und war todt. Der Bauer verscharrte die unglückliche Kindesmörderin an derselben Stelle, wo er sie gefunden hatte, aber seit dieser Zeit ließ sich Abends ihre Jammergestalt an derselben Stelle sehen und von da an äffte auch der Baum selbst die Vorübergehenden.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 390-391.
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