808. Die Christmette in der Kirche von Bergen.

[715] (Poetisch behandelt v. Henninger Th. III. S. 45 etc.)


Noch heute erhebt sich einsam auf eines Berges Gipfel die Kirche des nunmehr verschwundenen Dorfes Bergen, um dieselbe zieht sich der Friedhof, wo die Bewohner des Dorfes Werschau beerdigt werden. Bis zum 30jährigen Kriege gehörte dazu ein Dörfchen am Fuße des Berges in dem sogenannten goldenen Grunde gelegen. Da kamen die Schweden ins Land und mit ihnen Pest und Hungersnoth. In dem Dörfchen aber wohnte eine Wittwe, welche zwei Töchter hatte, die eben so schön als gut waren. Da die Wittwe begütert war, so brauchten sie nicht zu arbeiten, sondern wendeten ihre ganze Thätigkeit auf Armen- und Krankenpflege. Leider aber gehörte die älteste Tochter zu den letzten Opfern der bösartigen Seuche, welche das Dörfchen entvölkert hatte. Kaum war indeß die Krankheit verschwunden, da kehrten auch die Schweden wieder und wütheten unter den armen Dorfbewohnern. Einer der Bösewichter fand Gefallen an der noch lebenden Tochter der Wittwe, und quälte sie mit seinen schlechten Anträgen. Da sie ihm nicht Gehör gab, so wollte er Gewalt brauchen, das wackere Mädchen aber entriß sich seinen frechen Händen und eilte den Berg hinan, wo sie auch hinter den Mauern der Kirche, deren Pforte sie hinter sich ins Schloß warf, Schutz suchte. Der Schwede aber ließ sich nicht abhalten, er holte eine Axt und schlug die Thüre ein. Zwar hielt sie ihm das Crucifix, welches auf dem Altar stand und das sie als Waffe gegen ihn ergriff, entgegen, allein der Schwede zog das Schwert und hieb es in zwei Stücken auseinander, und schlang schon seine Arme um sie. Doch noch einmal riß sie sich von ihm los und eilte zur Kirche hinaus und stürzte sich von der Spitze des Felsens hinab, an dessen Fuß man ihre zerschlagenen Gebeine als eine unscheinbare Masse auffand. Nun war die Wittwe ganz allein und täglich flehte sie zu Gott, er möge auch ihrem Leben ein Ende machen und sie mit ihren verstorbenen Töchtern vereinigen. Allein[715] vergebens. So kam das nächste Weihnachtsfest heran und am heiligen Abend legte sie sich nieder, besorgt das Läuten zur Christmette nicht zu versäumen. Um Mitternacht erwachte sie auch durch hellen Glockenklang, sie dachte, es läute schon zur Mette, sprang aus dem Bett, kleidete sich schnell an und eilte mit dem Festtagskleide geschmückt hinauf zur Kirche. Zwar war der Pfad still und leer und auch nicht ein Mensch auf dem Wege zu sehen, allein sie dachte, es sei etwas spät und Alles schon in der Kirche versammelt, denn herab klang der Orgel Feierklang und als sie den Friedhof betrat, da blitzte durch die Fenster der Kerzen voller Glanz herab auf die Todtenkreuze. Als sie aber in das Innere der Kirche trat, da war der Raum derselben gedrängt voll von frommen Betern, aber wunderbarer Weise keine Kerzen brannten, sondern jeder der Anwesenden war von einem lichten Schein umgeben, und als sie sich die Umstehenden etwas genauer ansah, sah sie keinen aus dem Dorfe, der noch lebte oder den sie kannte, wohl aber erblickte sie eine Menge Personen, die theils kurz vorher oder länger schon verstorben waren. Selbst der Priester, der vor dem Altar stand, war schon vor einiger Zeit gestorben. Plötzlich gewahrte sie aber in ihrem gewöhnlichen Kirchenstuhl ihre zwei verstorbenen Töchter, welche ihr freundlich zunickten. Sie eilte auf sie zu, dieselben nahmen sie zwischen sich, umarmten sie und sprachen: »Ehe noch der Wald sich wiederum belaubt, wird auf Deinem Grabe schon die Schlüsselblume emporsprossen!« Noch schwelgte, berauscht von Glück, die Wittwe an ihrer Töchter Brust, da tönt herab vom Thurme in dumpfen Schlägen der zwölften Stunde Klang und plötzlich wird Alles still, die lustige Schaar flieht davon und verschwindet auf den Gräbern und ringsherum in der Kirche schwebt ein leichter Morgenduft, und die Wittwe kniet allein im leeren Gotteshaus und statt des himmlischen Lichtes dringt jetzt der helle Mondschein herein durch die hohen Fenster. Noch waren aber nicht acht Tage ins Land gegangen, da lag die Wittwe auf der Todtenbahre und die Verheißung ihrer Töchter war erfüllt. Das Dörfchen aber ward kurz nachher von Brand durch Feindeshand zerstört und nicht wieder aufgebaut122.

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Eine ähnliche Sage s. oben Nr. 713.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 715-716.
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