963. Disteln verrathen einen Mörder.

[809] (S. Lyncker S. 112.)


Bei Hohenzell, einem Dorfe in der Nähe der Stadt Schlüchtern liegt ein Acker, der das Beinert genannt wird. Auf diesem Acker kann man zwar Getreide säen, allein gewöhnlich wird dasselbe von zahlreichen Disteln überwuchert, so daß nur wenig Frucht erbaut wird. Von diesem Felde giebt es aber folgende Sage. Einst gehörte dasselbe einem ziemlich begüterten Bauer; derselbe war gerade auf demselben, als er in später Abendstunde einen Krämer daherkommen sah, welcher ein ziemlich schweres Kästchen unter dem Arme trug. Der Bauer muthmaßte, daß Geld darin sei, und da er weit und breit Niemanden sah, so kam der böse Gedanke in ihm auf, den Mann zu erschlagen und sich so seines Geldes zu bemächtigen. Er überfiel ihn also, warf ihn zu Boden und sprach zu ihm: »Du mußt sterben.« Der Krämer bat ihn[809] hoch und theuer um sein Leben, allein umsonst. Da sagte er: »Hüte Dich, wenn Du mich tödtest, werden Dich einst diese Disteln verrathen!« Da lachte der Bauer und sprach: »Wenn's weiter nichts ist, da fürchte ich mich nicht, Disteln können nicht reden!« Damit schnürte er dem Krämer die Kehle zu, zog ihm die Kleider aus und verscharrte ihn auf demselben Felde. Indessen machte das gefundene Geld den Mörder doch nicht glücklich, er ward tiefsinnig und ein gewisses Etwas nöthigte ihn immer auf den Acker zu gehen und es kam ihm vor, als wenn die Disteln immer größer würden und mit ihren Köpfen vom Abendwinde bewegt ihm drohten und riefen: »Du bist ein Mörder!« So gingen mehrere Jahre ins Land, da hatte er einmal Weizen auf den Acker gesäet und es war Schnittzeit und er mit einigen Leuten, die ihm ernten halfen, auf dem Felde. Wie er nun so tiefsinnig auf einer zusammengebundenen Garbe dasaß und vor sich hinstarrte, da fragte ihn einer seiner Arbeiter: »Herr, was hast Du denn, warum sprichst Du nicht mit uns?« Er antwortete aber ganz in Gedanken: »Das darf ich nicht und die Disteln können mich auch nicht verrathen, denn diese sind, Gott sei Dank, stumm!« Da fragte jener weiter: »Ei, was können sie denn nicht verrathen?« Der Bauer aber sagte wie nicht recht bei sich: »Nun, daß ich hier den Krämer erschlagen und eingescharrt habe!« Da ergriffen ihn seine Leute und führten ihn ins Dorf zu dem Richter und da dieser nicht dachte, daß dies bloßes Geschwätz sei, sondern meinte, es müsse hier etwas Ernstes zu Grunde liegen, so ließ er nachgraben und man fand richtig an der Stelle, wo der Bauer gesessen hatte, den verwesten Körper des Ermordeten. Auf derselben Stelle ward aber auch er selbst hingerichtet und der Acker bekam von den Gebeinen des hier ermordeten Krämers den Beinamen »das Beinert.«

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 809-810.
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