1140. Die alte Burg zu Lüchow.

[922] (Nach Hennings S. 59 etc.)


Der älteste Theil der freilich in Trümmer versunkenen alten Burg zu Lüchow war der Flügel, welcher sich längs der kleinen städtischen Bleichwiese, von Nord nach Süd hinzog und später den rechten Flügel des neu umgebauten Schlosses bildete. Derselbe hatte an jedem Ende einen runden Thurm und in der Mitte außerdem noch einen sechsseitigen, halb aus der Fronte hervorspringenden, thurmartigen Ausbau, welcher den Haupteingang enthielt. Ueber diesem Eingange befand sich ein in Bruchstein ausgehauenes Bild. Dasselbe zeigte eine Schmiedeesse mit danebenstehendem Amboß. Ein Schmied hält in der Zange festgespannt einen Menschenkopf und ist damit beschäftigt,[922] ihn zu verarbeiten. Dieser Beschäftigung schaut eine Dame zu, welcher ein langer Eberzahn, ein sogenannter Hauer, aus der obern Kinnlade hervorragt. Dazu ist folgende Inschrift gefügt:


Wer die Tugend hat errungen

Dem schaden nicht der Bösen Zungen.


Die Sage erzählt hierüber, eine frühere Gräfin von Lüchow, Anna von Nassen (oder Nassau), sei mit einem riesigen Eberzahn verunziert gewesen und habe im Lande ausrufen lassen, sie wolle den Mann ehelichen, der einen ähnlichen Auswuchs aufzuweisen habe. Nach einiger Zeit habe sich denn auch ein junger Edelmann, der wirklich eine ähnliche Unschönheit gehabt, gemeldet und um die Hand der Dame geworben. Ob er nun wohl im Uebrigen schön gestaltet gewesen sei und der Gräfin wohl gefallen habe, so habe diese doch ihre Gefühle bekämpft und beschlossen, ein so verunziertes Geschlecht sich nicht fortpflanzen zu lassen, sie habe also befohlen, ihn hinzurichten und der Schmied habe aus dem vom Rumpfe getrennten Kopfe den Hauer herausschlagen müssen. Zur Strafe müsse sie aber als großer schwarzer Hund im Burggebiete umgehen.

Nach einer andern Erzählung sei sie aber durchaus nicht durch solche Zähne verunstaltet, sondern eher ein Ideal der Schönheit gewesen; im Bewußtsein ihrer hohen Reize habe sie aber auch nur den schönsten Mann der Erde zum Ehegemahl nehmen wollen; darauf hin sei ein Schmiedegesell, der so eitel gewesen, sich für den schönsten der schönen zu halten, zu ihr auf die Burg gekommen und sich der Gräfin angetragen, diese aber ergrimmt über solche Unverschämtheit, habe ihn enthaupten und sein Haupt auf dem Amboß wie ein Stück Schmiedearbeit verarbeiten lassen, zur Strafe jedoch habe ihr Gott die Zähne immer länger und länger wachsen lassen, bis sie die Form von Eberzähnen bekommen hätten, womit denn ihre gepriesene Schönheit für immer zu Ende gewesen sei.

Eine andere Gräfin von Lüchow hat ein so eigenthümliches Gelüste nach dem Gehirn von Häringen getragen, daß dieser Artikel ihre Lieblings- wenn nicht einzige Speise ausmachte und sie zuletzt dadurch in Armuth gerieth. Man bezeichnet noch jetzt eine Innung in Lüchow (die Maurer- oder Schmiede-Innung) als diejenige, welche die zahllose Menge der Häringe, nachdem man diesen das Gehirn genommen hatte, aus der Burg zum Geschenk erhalten habe. Als Wahrzeichen zogen die Angehörigen dieser Innung noch Jahre lang am Fastnachtstage, einen Häring an einer Kette, durch die Stadt.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 922-923.
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