1145. Graf Isang von Seeburg.

[926] (S. Veldeck, Göttingen u.s. Umgebungen Bd. II. S. 56. Harrys Th. I. S. 1 etc. Etwas verschieden bei Schambach u. Müller, Niedersächs. Sagen S. 49.)


Unfern Göttingen, zwischen den Dörfern Seeburg und Berenshausen, liegt der Seeburger See. Einst war er groß und weit, nun wird er jährlich kleiner, aber wie die Fischer sagen, seine Tiefe ist an vielen Stellen nicht mehr zu ergründen. Früher stand an seiner Stelle die stolze Burg der Grafen von Isang. Der letzte dieses Geschlechtes führte ein wildes und gottloses Leben, so daß er der Schrecken der ganzen Gegend war. Einst ritt er um Mitternacht zum Kloster Lindau hinab und stahl sich heimlich in die heiligen Mauern. Da sah er ein schönes Mädchen knieen vor dem Muttergottesbilde, indeß die andern Schwestern schliefen, er hub sie auf sein Roß und entführte sie nach seiner Burg. Wie er seinen Willen an ihr vollführt hatte, entdeckte er, daß die Nonne seine ihm unbekannt gebliebene Schwester war. Da erschrack sein Gewissen heftig, er sandte die Nonne mit Gold reich versehen zum Kloster zurück, schenkte demselben reiche Gaben, ließ den Altar kleiden und täglich viele Messen lessen, aber sein Herz bekehrte sich doch nicht zu Gott und bald hub er von Neuem an, seinen Lüsten zu fröhnen.

Wie er nun eines Tages in träger Lässigkeit sich auf seinem Lager wälzte, geschah es, daß sein Koch ihm einen silberweißen Aal brachte, der Graf meinte, es könne wohl eine Schlange sein, ließ ihn bereiten, speiste davon, verbot aber dem Diener bei seinem Leben etwas von diesem Gerichte zu genießen. Alsbald nach der Mahlzeit fielen dem Grafen alle seine begangenen Frevel schwer aufs Herz, ihm ward so heiß und eng, daß er nicht Ruhe hatte im Schlosse, sondern nach Luft schrie und in den Garten eilte. Da trat ihm ein Bote aus dem Kloster entgegen und sprach: »Zu dieser[926] Stunde ist Euere tugendhafte Schwester im Kloster verschieden. Euer Frevel hat sie zu Tode gebracht, das letzte Gebet sprach sie für Euch!« – »Ach!« seufzte Graf Isang, »wer nimmt mir mein elendes Leben?« Als er wieder nach seinem Schloß zurückgehen wollte, da hörte er auf dem Schloßhofe ein seltsames Murmeln und Rauschen wie Menschenstimmen und es war ihm, als wenn die Blumen und Blätter sprächen und alles Gethier redete, Enten, Hühner und Gänse im Hofe, Sperlinge und Tauben auf den Dächern. Das kam daher, weil der Graf von der Schlange gegessen hatte, und nun mußte er die Sprache der Thiere verstehen. Der Hahn sprach: »Es ist ein Sünder im Hause, wehe Graf Isang!« Die Hennen riefen: »Eile Dich, Graf Isang! ehe die Sonne untergeht, werden die Thürme Deines Schlosses fallen, wird Deine prächtige Burg versunken sein. Bete, Graf Isang!«

Ergeben in sein Geschick, schritt Graf Isang zum Schloßhof hinaus und setzte sich auf einen Stein vor der Thür seines Hauses. Da trat der Hahn zu ihm heran, schlug mit dem Fittig und sprach mitleidig: »Herr, Du kannst Dich noch retten, fliehe schnell, doch ziehe allein!« – »Soll ich allein fliehen«, antwortete Graf Isang, »und meine treuen Diener nicht retten?« – »Eile, eile! ziehe allein!« kreischte der treue Hahn.

Der Graf sattelte eben sein bestes Roß und wollte hinaus, da kam ein Diener athemlos herzu, fiel ihm in die Zügel und wollte den Grafen nicht allein ziehen lassen, sondern bat, daß er ihn mitnehme auf sein Roß. Der Graf aber fragte: »Was ruft der Hahn?« und der Diener, der trotz seines Herrn Verbot, von der Schlange gegessen hatte, vergaß sich in der Angst und sprach: »Willst Du Dein Leben retten, so eile zur Stunde von hier, doch ziehe allein!« – »Verräther«, schrie der Graf, »hast Du mir doch Dein Wort gebrochen? Nun geh' zur Ruh!« In diesem Augenblick krähte der Hahn wieder gewaltig: »Eile, eile, die Sonne sinkt!« Und wie der Graf aufschaute und sah, daß die Sonne schon ihre letzte Gluth auf die Spitzen der Berge goß, da zog er sein Schwert, spaltete dem Diener, der leichenblaß sich an seines Rosses Mähnen klammerte, das Haupt und sprengte über die Zugbrücke zum Schloßthore hinaus.

Auf einer Anhöhe nahe beim Städtchen Gieboldehausen ruhte er aus, sein Roß war todt. »Da liegt mein schönes Schloß«, sprach er mit weinenden Blicken, »und ich bin hier so ganz allein und mein Herz ist todesmatt. Was trieb mich hinaus? War Alles wohl nur ein wüster Traum?« Und wie er noch sprach, wankte plötzlich der Hügel und die Erde bebte unter seinen Füßen. Glühend roth war der Himmel und der Donner rollte. Erschrocken floh Graf Isang weiter, und wie er dann noch einmal nach der Burg zurückschaute, da war sie mit Wall und Thürmen in die Tiefe gesunken und an der Stelle, wo sie gestanden hatte, zeigte sich ein großer See.

Nach dieser wundervollen Begebenheit bekehrte sich Graf Isang und trug Buße seiner Sünden im Kloster zu Gieboldehausen, dem er verschrieb, was ihm von Erdengütern noch geblieben war. Noch heute werden nach seiner Verordnung reuigen Sündern an einem gewissen Tage Seelenmessen gelesen. Die Fischer haben zuweilen Silbergeräthe, Töpfe von alterthümlicher Form und andere Gegenstände aus der Tiefe des Sees gebracht.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 926-927.
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