1322. Die gelbe Blume.

[1065] (S. Müllenhoff S. 351.)


König Abels Schloß in Schleswig, wo der Verrath an seinem Bruder Erich geschah, ist längst verschwunden. Doch findet man auf dem Mövenberg noch unter dem Grase alte Kellermauern; hier liegen seine Schätze. Man hat da Nachts Lichter und Flämmchen erblickt und Schatzgräber haben da oft ihr Glück versucht. Aber Niemand ist noch zu den großen Schätzen gekommen.

Einmal in einer Nacht ging ein Mann an der Schlei herauf, und wie er aufblickte, sah er auf dem Mövenberg ein helles Leuchten. Neugierig und erstaunt über das Wunder, folgte er dem Scheine; er merkte endlich gar nicht, daß er über das Wasser ging und es unter seinen Füßen wie Eis hielt, bis das Leuchten immer heller und heller ward und er am Ende vor einem nie gesehenen großen Schlosse stand. In dem Schloßhofe aber sah er eine wunderbare gelbe Blume, die vor allen leuchtete und den Glanz verbreitete. Er brach sie ab und ging damit näher zum Schlosse, erst ging er rund herum, dann trat er ein; in dem Schlosse aber fand er alle Thüren verschlossen; sobald er aber die Blume daran hielt, sprangen sie auf. Er ging so durch alle Gemächer, eins war immer herrlicher als das andere. In dem letzten fand er endlich ein prächtiges Mahl angerichtet, und nachdem er sich niedergesetzt und nach Herzenslust gegessen und getrunken hatte, stand er auf und wollte wieder gehen. Da rief ihm eine Stimme zu: »Vergiß das Beste nicht!« Er sah sich um und erblickte Niemand; unter allen den Kostbarkeiten aber, die auf dem Tische standen, däuchte ihm nichts schöner als ein großer silberner Becher von gar künstlicher Arbeit. Da rief es zum zweiten Male: »Vergiß das Beste nicht!« Aber er langte nach dem Becher und wollte fortgehen. Da rief es zum dritten Male: »Vergiß das Beste nicht!« Er sah sich noch einmal im Saale um, aber da er nichts Schöneres fand, behielt er den Becher und ging damit über das Wasser nach der Stadt zu. Als er nun auf dem Lande sich umwandte, war das Schloß und alle Herrlichkeit verschwunden und nie hat er es wiedergesehen. Erst nach hundert Jahren blüht in einer Nacht die gelbe Blume wieder und ein Glücklicher kann das Schloß erreichen und es öffnen. Den Becher aber behielt der Mann und der ist nachmals in die Silberkammer nach Gottorp gekommen, wo alte Leute ihn noch gesehen haben. Die Sachen sind aber alle nach Kopenhagen gebracht worden.

Quelle:
Johann Georg Theodor Grässe: Sagenbuch des Preußischen Staates 1–2, Band 2, Glogau 1868/71, S. 1065.
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