Scenerie

[100] Ein Kreis von grünen Bäumen,

Gesträuch und Rasengrün;

Der Pfarrer wandelt betend

Mit dem Brevier dahin.


Die Lüfte blättern dienend

Sanft Blatt für Blatt herum;

Ein Strahl der Gnade, leuchtet

Die Sonn' ins Heiligthum.


Ein Kreis von grünen Bäumen,

Gesträuch und Rasen dabei,

Und jauchzend tafelt drunter

Eine lust'ge Kumpanei.


Die Büsche wölben als Keller

Sich über die Flaschen kühl,

Als Tafelmusik beginnen

Die Vögel im Laub ihr Spiel.


Ein Kreis von grünen Bäumen

Und Rasen und Gesträuch,

Da wallt, zermalmt von Elend,

Ein Mann gar trüb' und bleich.
[101]

Er seufzt, – da seufzt das Echo,

Wie eine Stimm' aus dem Grab;

Er weint, – da weinen die Zweige

Den Abendthau herab.


Ein Kreis von grünen Bäumen,

Gesträuch und Rasenplan;

Es schleicht mit blankem Dolche

Ein Mörder lauernd heran.


Der Büsche dichtes Dunkel

Versteckt den Finstern gut;

Da trieft vom Himmel selber

Das Abendroth als Blut.


Ein Kreis von grünen Bäumen,

Gesträuch und Rasen blos;

Da wallt mit Dint' und Feder

Der Amtmann aus den Schloß.


Als Pult dient ihm ein Baumstamm,

Dran lehnt er die Bogen auf,

Die Zweige schütteln als Streusand

Den Blüthenstaub ihm drauf.


Ein Kreis von grünen Bäumen,

Gesträuch und Rasengrün,

Und Bursch' und Dirne lagern

Sich küssend und kosend hin.


Die Bäume stehen Wache,

Der Rasen ist breit und weich,

Die Nacht senkt still den Vorhang,

Verschwiegen ist das Gesträuch.


Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 1, Berlin 1907, S. 100-102.
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Gedichte
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