Vogel und Wanderer

[260] Bas' und Vetter tafeln im Frei'n

Unterm Lindenbaum;

Sitzt auch ein singendes Vögelein

In dem schattigen Raum.


Und es meinen zu verstehn

Solches Wort die Zwei:

»Wie ist Gottes Welt so schön,

Schön und groß und frei!«


Vettern griff des Vogels Sang

Tief wohl in die Brust,

Daß vom Rasensitz er sprang

Voll von Wanderlust!


»Bäschen, meinen Stab hervor!

Schnell mein Bündel geschnallt!

Häng' mir um mein Kugelrohr

Gegen die Bären im Wald!


Meinen Sonntagsstaat umschling'

Einer Blouse Flor,

Draus entpuppt der Schmetterling

Fliegt verjüngt hervor!
[261]

Tubus komm, mir doppelt nütz,

Fernen ziehst du heran;

Räuber, dich haltend für Geschütz,

Hältst du fern im Bann!


Bäschen, Pfeif' und Knaster auch!

Wenn zu klar die Luft,

Hüll' ich die Landschaft leis in Rauch,

Da ich sie lieb' im Duft.


Einen Blitzableiter mir pflanz'

Auf den Regenschirm,

Daß ich so gesichert ganz,

Ob es regn' und stürm'!


Flaschenkeller, Triumph und Sieg

Menschlichen Geistes du!

Daß noch Haus und Hof ich trüg',

Schnecken gleich, dazu!


Lebe wohl, und das Weinen laß!

Ziehn jetzt kann ich getrost!

Wenn ich etwa vergessen was,

Sende mir's nach per Post.«


Als der Vetter so zum Gehn

Sich hat angeschickt,

Da begab sich's, daß das Gehn

Ihm gar nicht mehr glückt.


Vöglein von dem Baum entweicht,

Singt ins Blau hinein:

»Federleicht, ja federleicht

Muß der Wandrer sein!«

Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 1, Berlin 1907, S. 260-262.
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Gedichte
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