Heimliche Liebe

[342] Der Pfarrer Jost hat ein süßes Lieb,

Das hält er verborgen fein,

Wie Perlen im stillen Muschelschrein,

Wie Rehlein in dunkler Waldesnacht,

Wie Körnlein Goldes in tiefem Schacht,

Daß es kein Laienaug' ersehe,

Daß es kein Späher je erspähe.


Einst schlich er heim vom süßen Lieb,

Da sang im Teich ein Schwan:

»Ei seht, Herr Jost auf Amors Bahn!

Manch süßen Blick hat er erhascht,

Manch Küßchen von rothem Mund genascht!

Was sonst ihm Süßes ward zu eigen?

Wißt, daß ich auch gelernt, zu schweigen!«


Im Dorfe sang eine Schwalb' am Dach:

»Wo wohnt Herr Jostens Schatz?

Im Wald ist ein Häuschen auf grünem Platz,

Zwei hohe Linden rauschen am Thor,

Ein Brünnlein springt dazwischen empor,

Am Fenster wehn grünseidne Gardinen,

Vier Röslein nicken wohl hinter ihnen.«
[343]

Im Pfarrhof sang die Nachtigall:

»Was küßt Herr Jost im Brevier?

Ihr Bild und ein Löckchen von ihr!

Er birgt sie wie Rehlein in Waldesnacht,

Wie Körnlein Goldes in tiefem Schacht;

Doch singen von ihr die Schwän' im Bache,

Doch zwitschern von ihr die Schwalben am Dache!«


Und weiter sang die Nachtigall:

»Sei guten Muths, Herr Jost!

Und minn' und küsse fort getrost!

Wie dir's erging, geht's noch zur Zeit

Manch bravem Mann in der Christenheit;

Auch sind, die ihm solch Liedlein gesungen,

Nicht immer Nachtigallenzungen.«

Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 1, Berlin 1907, S. 342-344.
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