Kopf und Herz

[23] Ihr Einer Mutter Sprossen,

Gefährten Eines Seins,

Desselben Heims Genossen,

Ei, werdet ihr nie Eins?


Du Kopf, der von den Zinnen

Die Wacht und Umschau hält,

Du Herz, dem traulich innen

Ein Stüblein warm bestellt?


Es spinnt im obern Raume

Der Grübler und Prophet,

Und unten singt im Traume

Der Schwärmer und Poet.


Dem unten wird's zu enge,

Gern sprengt' er Deck' und Wand,

Ein Stern im Lichtgedränge

Hält seinen Blick gebannt.
[24]

Er kann das Aug' nicht wenden

Von diesem Einen Stern,

Er langte mit den Händen

Zu sich den hellen gern.


Der oben sieht die Zeichen

Und mahnt mit strengem Sinn:

»Was nie du kannst erreichen,

Du Thor, laß fahren hin!«


Der Spruch sei hoch zu loben,

Das Bürschlein unten schwor,

Sein Blick doch blieb erhoben

Zum Sternlein nach wie vor.


Das nimmt der Pred'ger übel

Und gießt herab im Groll

Auf jenen einen Kübel

Der derbsten Weisheit voll.


Der unten scheut die Lauge

Und duckt den Lockenschopf,

Den Stern doch fest im Auge;

Das Herz hat seinen Kopf.


Der oben muß verzagen;

Er theilt wohl gar den Schmerz?

Mir ist, ich hör' ihn sagen:

Der Kopf hat auch ein Herz.

Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke, Band 1–4, Band 2, Berlin 1907, S. 23-25.
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