10.

[21] »Ich zog aus meinem Strohbett eine Aehre

Und hielt sie lang vors Aug' in meinen Händen;

Als ob in ihr ein stiller Zauber wäre,

Konnt' ich die Blicke nimmer von ihr wenden.


Ein Feld voll Garben stieg vor meinen Blicken!

Ha, wie sie flüsternd durch einander gaukeln,

Geschäftig mit den goldnen Häuptern nicken

Und weithin ihres Meeres Wogen schaukeln!


Von blanken Sicheln, durch die Schwaden ringend,

Ist, Silberkähnen gleich, dieß Meer befahren,

Und Schnittermädchen, aus den Wogen springend,

Es sind der Meeresgöttin Dienerschaaren.


Und blanke Dörfer rings und grüne Hügel,

Darüber hin der ew'ge Himmel blauend

Und Lerchen drin, von Morgenroth die Flügel,

Und von Gesang die Kehlen überthauend!


Die Wälder säuseln, und die Quellen klingen,

Dort um die Linde tönt's von Flöt' und Geigen,

Daß Bursch und Dirne sich im Reigen schwingen,

Und selbst die Blüthen tanzen von den Zweigen
[22]

Die Garben ruhn den Jungfrau'n nun zu Füßen,

Und auf den Garben farb'ge Kränze liegen;

Ich fasse einen, um in eines süßen,

Geliebten Hauptes Locken ihn zu schmiegen.


Da rasselt mir am Arm die Kett' entgegen,

Der Hand, der bebenden, entsinkt die Aehre!

Du dürrer Halm, wie hätt' ich's denken mögen,

Daß ich durch dich noch einst so elend wäre!«


Quelle:
Anastasius Grün: Gesammelte Werke,Band 1–4, Band 3, Berlin 1907, S. 21-23.
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