VII. Das Jahr der Seele

[124] George hatte die Bildungswelten die er durchseelte und die ihn durchbildeten renaturiert d.h. entromantisiert und enthistorisiert, bis in ihnen nur ihr urtümlich ewiger und ihr einmalig persönlicher Gehalt zu Wort kam: das was darin schon überhistorisch mögliche, historisch verwirklichte Menschen-natur war und das was noch seines eigenen Wesens heutiges Schicksal war. So waren ihm in drei Kreisen anverwandelt, eingeeignet die Grund-Lagen des europäischen Deutschtums .. aus seinem Blut waren in seine Sprache und Schau, aus seiner Energie in seine Entelechie gestaltet griechische, gotische, morgenländische Urformen, die der Romantik als Stimmung, Wissen, Spiegelung, Abglanz genügt hatten. Hier war höchstens noch Vermehrung der dinglichen Masse, nicht mehr Steigerung und[124] Verdichtung des menschlichen Gehalts möglich. Ein Gehalt ist für den Dichter erschöpft, sobald er sein Sinnbild gefunden .. nur die Schriftsteller verweilen auf den Fundstätten ihrer Symbole und suchen weiter.

Der Dichter will Chaos bezwingen und seine schmerzlichsten Stunden sind die ungestalten Dämmerungen zwischen einem fertigen Tag und der trächtigen Nacht, die nach seinem Willen verlangt wie er nach ihrer Fülle. Je größer die schon bewältigte Masse war, desto leerer erscheint die Zukunft, desto unwahrscheinlicher eine neue Schöpfung, desto tiefer die traurig finstre Einsamkeit zwischen erledigtem und ersehntem Werk .. Ruhe auf Lorbeeren kennt nur der Fant. Zwischen dem Algabal und den Hirtengedichten lag keine Öde dieser Art: der Algabal war die erste Bewährung der eigenen Kraft, nicht die Bewältigung eines Wirkungsraumes und das neue Land schimmerte dem Bereiten und Gerüsteten verheißend entgegen .. in die Hirtengedichte ist etwas eingeflossen von diesem Morgenlicht des selbstgewissen Entdeckers, und die Entspannung nach dem Algabal war nicht Abspannung, sondern Lockerung und Lockung. Hinter den Hängenden Gärten aber lag zum erstenmal ein volles Leben mit und in einer weiten Welt. Da schien keine Jugend vollendet, sondern ein Mannesalter erschöpft und wer die Bewegungsstärke und Fülle dieser drei schmächtigen Bücher gewahrt der mag das Alter des Dichters nach Tagen statt nach Jahren bemessen.

Die Trauer der Erfüllung, die Trauer »dess der ein Königreich verlor«, das heißt, der einen Machtbereich zu Ende gelebt, lastete zum erstenmal auf George hinter den Mauern der Hängenden Gärten und noch sah er keine frische Weite vor sich. Diese abgründige Trauer ist die Luft in der seine nächste Dichtung reifte, das Schicksalsklima des Jahrs der Seele. Noch eh die künftige Schicht Form gewann war sie bereits getränkt mit dieser Schwermut. Ein bloßer Erlebnislyriker hätte mit ihr allein, samt der bisherigen Sprachgewalt und Motivenreihe, bereits neuen Gehalt gehabt. George bedurfte eines jungfräulichen Bodens, den keine bloße Stimmung geben konnte, einer neuen Dimension des Wesens. Diese lag damals für ihn nicht in der hellen Breite, sondern in der finstern Tiefe. Das Schlußgedicht der Hängenden Gärten, ein Untertauchen, ist dafür ahnungsvoll[125] symbolisch. Indem George die neue schöpferische Nacht seiner Seele suchte, fand er zugleich den neuen Raum eben dieser Seele und ihr neues Schicksal: in der geschichtslosen, gestalt- und scheinlosen Natur. Ihr Geschichte, Gestalt und Schein zu geben, seine geschichtshaltige Seele und Sprache in sie einzugießen, seine geschichtssatte Seele und Sprache mit ihrem Chaos wieder zu verjüngen: das war ja zugleich die Aufgabe die er dunkel suchte und das Schicksal das ihn an dieser Wende seines Daseins fand, als er sein Ich bis zum Überdruß besaß und seine erste »Welt« hinter sich hatte.

Seine Grundspannung, dichter und breiter durch den Zuwachs anverwandelter Geschichte, brachte er auch in das Chaos Natur mit und auch hier hatte er das Urmenschliche wieder heraufzuholen. Die Natur, so vormenschlich und untermenschlich sie erscheinen kann, enthält doch die animalische Masse und das schöpferische Leben des Menschtums .. sie ist Pan, Dionysos und Aphrodite. Der welthaltige Dichter muß bis in den Bereich selbst hinunter steigen aus dem diese Götter emporstiegen: sie dürfen ihm nicht geschichtliche Mittler sein: das wäre Romantik. Wie George aus der Geschichte die menschlichen Urbilder selbst emporhob, so mußte er auch die Natur entromantisieren. Die Natur entromantisieren (das ist die negative Seite des Welthaftmachens, des »Ur-hebens« – wenn man dies Gegenwort zu »ableiten« gestattet) heißt nicht mehr Urbilder erneuern, sondern Urkräfte bannen. Vor der ursprünglichen Welt, – ob Bilder der Geschichte oder Kräfte der Natur – lag ein Schleier von Mitteln, ein Zwischen das erst aufgehoben werden mußte. Dieser Schleier vor der Natur ist der Mythus und die Stimmung, die antikisierende, panische, dionysische oder apollinische Allbelebung der Goethe oder Hölderlin und die christliche Allbeseelung der Klopstock, Novalis, Tieck, Eichendorff, Lenau.

Vielleicht läßt Georges »Natur« sich am besten verdeutlichen, indem man sie zunächst abgrenzt gegen die bisher geläufigen »Natur«-erlebnisse der Neueren, denen allen ein Symptom gemein ist: der Riß zwischen Natur und Einzelseele. Derselbe Zwiespalt zwischen Alltag und gehobenem Einzelaugenblick aus dem die gesamte neuere Erlebnislyrik entsteht und wodurch sie sich von der antiken, dem Ausdruck einer dauernden Feier unterscheidet (s. S. 63), bestimmt auch[126] das Verhältnis der großen deutschen Lyriker vor George zur Natur, und sein Jenseits dieses Zwiespaltes gibt seiner Naturdichtung ihre eigene Stelle. Der junge Goethe empfängt die Natur als ein Gesamt von Lebenskräften in der eigenen Seele und drückt ihre Wirkung aus mittels der sinnlichen Bilder die ihm jeweils begegnen: die Landschaften werden Formen der durch die Naturkräfte erregten Seelenzustände. Die Natur, ein vormenschliches Werden, wird im Dichter menschliches Gefühl und erscheint als sinnlich-beseelter Raum (der beim späteren Goethe sich gegenüber dem Gefühl immer mehr verselbständigt). Dies ist der eine Grundtypus deutscher Naturdichtung geworden, den man den anthropomorphen Pantheismus nennen könnte. Seine höchste Steigerung ist Hölderlin: er hat die Kräfte die Goethe noch durch menschlich beseelte Landschaft vermittelt zu Göttern verdichtet und so aus der Natur einen Seelen-olymp geschaffen, der dem antiken Sinnen-olymp verwandt erscheint, aber durch die Erfahrungen der christlichen Jahrhunderte geistiger und einsamer geworden ist. Goethe und Hölderlin erfahren beide die Natur unmittelbar und werden ihrer eigenen Seele erst gewahr durch diese Erfahrung, durch diese Sympathie mit dem All: die Natur ist das Sinnbild oder der Mythus des naturgeborenen Seelengeschehens – beseeltes Heidentum.

Demgegenüber steht das Naturgefühl das in Klopstock zuerst Stimme gewann. Hier ist die Seele wach durch das Er-lebnis der supranaturalen Gottheit, und die sichtbare Natur, die Landschaft, wird lediglich eine Grenze, ein Schmuck oder Beweis für die Erhebung des betenden Gemüts: sie hat keinen Eigenwert, sondern empfängt ihn mittelbar durch den Gedanken an ihren Schöpfer oder an ihre Empfängerin, die gotterfüllte Seele. Sie ist nicht mehr die Fülle des Seelengeschehens, sondern Stimmung, d.h. eine Farbe oder Eigenschaft der von Gott gefüllten und bewegten Seele. Diesen Typus steigert die Romantik, nur daß hier der supra-naturale Gott mit dem unbedingten, aber ebenfalls supra-naturalen Ich (sei es als Geist, Seele, Phantasie, Wille gefaßt) eines und die Natur bei einigen Romantikern aus einem bloßen Schmuck zum zentralen Gleichnis der Anbetung wird. Sie bleibt aber Gleichnis des Ich, Gleichnis eines supra-naturalen Seins, nicht wie bei Goethe und Hölderlin Ausdruck[127] oder Form eines naturhaften Seins – versinnlichtes Christentum, theomorpher oder amorpher Panpsychismus, wenn man solche Formeln mag. Die Seele wird bei Goethe und Hölderlin Leben, das heißt innere Natur. Das Leben wird bei Novalis, Tieck, Eichendorff Seele, das heißt naturloses Innen. Die romantischen Naturbilder sind geisternde Scheine, unwirkliche Spiegelungen naturleerer, aber natursüchtiger Seelen. Die Landschaften Goethes und Hölderlins sind Räume und Formen naturgefüllter, naturgewirkter Seelen. Zwischen beiden steht Jean Paul, der eben aus der Mischung des mythischen und des stimmungsartigen Naturgefühls im Ringen zwischen Seele und Natur die reichsten Farben, Stauungen, Schmiegungen gewann und beide aneinander steigerte und reizte.

In beiden Fällen entsteht das Naturgefühl aus der Ehe zwischen Natur und Seele, einerlei welche empfängt und welche gibt. Naturmythus wie Landschaftsstimmung setzen Natur und Seele aus-einander, oder ineinander um: sie sind Ergebnisse eines Werdens, eines Aktes, Zeichen einer Bewegung von Natur zu Seele oder umgekehrt. Bei George besteht dies ursprüngliche Auseinander ebensowenig wie in der Antike: die Natur und die Seele sind dort nicht zwei verschiedene Mächte die sich mischen, einen, bewältigen oder scheiden können, sondern zwei verschiedene Zustände, besser zwei Ansichten desselben Wesens oder zwei Attribute derselben Substanz. Erst das Christentum hat die Menschenseele aus dem Kosmos herausgerissen und sie als Gott oder Geist der fortab entgötterten Natur gegenüber gestellt, derart daß wir von da an in der vorplatonischen Antike eine »Natur für sich« sehen, welche die Antike gar nicht kannte: der Mensch war nur die faßlichste Form der Natur, jeder Leib war Seele, die Götter waren beseelte Naturbilder – d.h. verkörperte Lebenskräfte, und »Natur« war nur das räumliche, in verschiedenen Graden bis zum schönen Leib, bis zum Gott hinauf sinnlich faßbar gemachte Leben: der Kosmos. Ein seelisches Innen als sinnliches Außen zu sehen bedurfte es keines »Erlebnisses«, keines Aktes .. es war die gegebene Seinsart daß Seele nur als Leib, Raum, Landschaft, Gott lebte und erschien. Homer oder Äschylus hätte nicht begriffen wie eine Landschaft einen Gemütszustand ausdrücke .. sie war ein Lebenszustand, aber ihr eigener, nicht der eines Erlebers. Kein antiker Dichter[128] konnte auf den Gedanken kommen Landschaften zu beseelen oder Gemütszustände zu verkörpern! Erst moderne Ästhetiker lesen dergleichen ins Altertum hinein. Die Alten sahen Leiber nur lebendig, also beseelt, und Leben, also auch Seele, nur leibhaft .. sie zeigten was war als seiend, aber sie »erlebten« nicht etwas Seelisches im Sichtbaren oder umgekehrt.

Und zwar hat die Einheit der klassischen Antike, der Kosmos, durchaus die Farbe dessen, was wir heute die »Natur« nennen, nachdem diese Scheidung nun einmal unumgänglich ist. Es ist ein Kosmos den Pan regiert: das Leben als blutliche Fülle – nicht Psyche: das Leben als seelische Kraft .. oder vielmehr das gesamte Leben, auch die seelischen Kräfte wurden nur panisch erfahren. Das bedeutet nicht daß sie umgesetzt oder unterdrückt wurden, sondern unter bestimmten Formen erschienen. [Die Erscheinung einer Kraft ist sehr verschieden von dem modernen »Erlebnis«. Das Erlebnis setzt eine Sonder-seele voraus die erlebt, die Erscheinung Menschenorgane denen erscheint. Erleben ist ein subjektiver Akt .. Erscheinen ein objektives Geschehen .. Erlebnis eine Beziehung, Erscheinung ein Ding.]

Wenn wir bei George nun nach dem christlichen Zwiespalt zwischen Natur und Seele wieder die Einheit eines Kosmos wiederfinden worin beide nicht nur zusammen, sondern eines sind, so regiert im Jahr der Seele, das diese Einheit dichterisch darstellt, im Gegensatz zur antiken »Natur«-poesie, allerdings nicht Pan, sondern Psyche. Die Natur zu der George in diesem Stadium seines Lebens gereift oder, was dasselbe heißt, die in ihm jetzt erwacht, verwirklicht ist, dieses All von Lebenszuständen erscheint unter einem seelischen Gesetz, nicht unter einem blutlichen Trieb. Antik ist dabei das Wie, die unbedingte Einheit des Menschen mit der Natur, mit dem Sinnenganzen. Christlich mag man daran finden ein Was, nämlich den Eigenwert der Menschenseele, die nun so hochgesteigert ist, daß sie als Gesetz der Natur erscheinen kann – während sie im Heidentum ihr Gesetz von Pan mitempfing. Aber die Seele ist, sehr unchristlich, der Natur immanent und nicht transzendent: sie ist Naturseele, nicht Geistseele. Von dem Goethisch-Hölderlinschen Pantheismus wiederum unterscheidet sie (zu schweigen vom persönlichen Sinn und Verhalten)[129] daß sie der Natur nicht eingeht, sondern inne-ist, also nicht durch einen Akt die Einheit erstrebt und erlebt, sondern als einen Zustand zeigt und darlebt.

Darum heißt das Buch: Das Jahr der Seele. Dieser Titel schon verkündet das objektivste Geschehen, den zeitlichen Ablauf der Naturvorgänge, als das innere Leben eines Menschen – nicht um die Natur zu ver-ichen, auch nicht um das Ich zu naturieren, sondern weil diesem Dichter die Natur als Seele, als innere Kraft und heimlichster Zustand, und die Seele als Natur, d.h. als sinnliche Schau und gesetzlicher Wandel, gegeben ist. Die Einheit, nicht das stimmungshafte Wechselspiel beider, beherrscht dies Buch. Weder enthält es Landschaften, gefärbt von einem traurigen oder fröhlichen Gemüt, wie die Byrons, noch Gemütszustände, vergegenständlicht in Gärten oder Wäldern, nach Art Mörikes oder Lenaus, noch Beschreibungen wie die Stifters aus Blick- und Mal-freude .. nicht beseelte Landschaften oder Landschafts-Erlebnisse: sondern eine Seele die durch Landschaften ihr Sein und Schicksal verwirklicht .. die als Natur erscheint. Die Seele die hier spricht ist nirgends ein bloß erschüttertes Ich, eine willkürlich wallende Person, sondern ein Gesetz das wohl eines menschlichen Trägers bedarf um zu sprechen, aber wenn auch individuell, doch so wenig individualistisch, wenn auch Subjekt, genau so wenig subjektiv ist wie der Baum, die Welle, das Wetter .. wie Pflanzen und Tiere ist sie willkürloser Träger eines ewigen Wachstums-Gesetzes, das nur walten kann durch und an wirklichen einmaligen Gewächsen. Das »Jahr« das wir hier mitwandeln ist weder ein äußerer Ablauf von Naturvorgängen noch eine landschaftsmalerische Programm-musik zu einem Herzenstext, sondern die Naturform des Seelenschicksals, der Raum innerer Zeit, ein sichtbares Gesetz des Wandels.

Will man die eine Substanz wovon das »Jahr« (die Natur) und die »Seele« die beiden Attribute sind – den Kosmos wovon sie die beiden Anschauungsformen sind – mit einem gemeinsamen Namen bezeichnen, so nenne man sie in einem prägnanten Sinn das Schicksal: freilich ein Schicksal das weder Ananke noch Moira, eherne Not und Schickung, noch Tyche, persönlicher Zufall, Glück oder Unglück ist (mit den entsprechenden Gemütslagen Glückseligkeit oder[130] Unseligkeit) sondern innere Bestimmung. Sie haftet an dem einmaligen Charakter, er hat sie nicht nur, er west sie zugleich, und erst durch ihn kann sie offenbar und wirksam werden. Aber sie bleibt die Inkarnation des überpersönlichen Gesetzes, nicht der Ausfluß persönlicher Eigenschaften. Am nächsten kommt diesem »Schicksal« die Idee des Daimon wie Goethe sie gefaßt hat in dem orphischen Ur-wort: nur daß Goethes Daimon mehr das Werden der Entelechie regt und Georges Schicksal mehr ihr Sein und Tun beherrscht. Georges ganzer Daseinskreis ist von vornherein in sein Schicksal getaucht, wahrend Goethes Daimon von Natur und Seele unabhängig waltet und sie mehr als Spielraum und Kampfplatz behandelt denn als Gesetz und Sinn durchdringt. Wie Natur und Seele in sich bei George eines sind, so sind sie auch eines mit dem Schicksal: jede Stunde des Jahres erscheint im Jahr der Seele zugleich als Naturvorgang, als Seelenzustand und als Schicksalsblick oder Kairos. Landschaft, Mensch und Geschehen sind nur drei Dimensionen desselben Seins. Dies gab es vor George noch nicht.

Durch diese Dreigesichtigkeit ist das »Jahr der Seele« eines der geheimnisvollsten Bücher geworden, und der Reiz den es selbst auf Durchschnittsleser vor anderen Werken Georges ausübt kommt großenteils daher daß man hier statt der Gestalt und des Gesetzes, mit ihrem festen Anspruch und ihrer unnahbaren Gedrungenheit, ein unverbindliches Element, Stimmung und Musik zu finden glaubte, eine Rückkehr in die eigentliche »Lyrik«, den holden Gemütsdämmer wo sich der deutsche Leser am wohlsten fühlt. Während überall in Georges ersten Büchern sein Wille und seine Schau völlig in das Sprachgebild gebannt war, fremd, rund und ausschließend, während seine späteren sein Gesetz und seinen Gott offenbaren, zwar vieldeutig, doch eingestaltig, scheint im Jahr der Seele der eigentliche Gehalt nicht in den Aussagen und Bildern zu liegen, sondern dahinter oder dazwischen. Der beladene Ton, die mit allen Sinnenzaubern getränkte Sprache, die rätselhafte Schwere und undurchsichtige Tastbarkeit jedes Verses, die samtene Pracht und zugleich traumartige Schwebe, die weiten Hintergründe bei dichter Fülle, die Heimlichkeit und zugleich Ferne – all das verriet die Gegenwart eines Lebens hinter den faßbaren Worten, beunruhigte und lockte auch solche[131] hinter die Erscheinung zu greifen die sonst mit Georges Erscheinung nichts anzufangen wußten. Der Deutsche liebt ja in jedem Hier das ihn bindet noch das Dort das ihn schweifen läßt und den Spielraum für die Suche nach dem Andern. Wer hier nach alter Gewohnheit Bekenntnisse und Erlebnisse las, lugte durch die allzustillen Oberflächen in die Tiefe, ungewiß wo er den Grund zu suchen habe.

Der Grund dieses Werkes liegt nicht so sehr wie bei den anderen Dichtungen Georges in ihrer Erscheinung selbst, worin sein jeweiliger Gesamtgehalt Sprache wird, sondern in dem Schweigen wovon es umlagert ist und wovon die einzelnen Seelen-, Natur- und Schicksalsworte nur zeugen wie die Wellen von einem Meer. Denn jene Einheit von Natur Schicksal Seele war nicht als menschliche Gestalt unmittelbar zu geben, wie (in den andern Büchern) die Seelenspannung, der Geschichtsgehalt, das Gesetz oder die Gottheit des Dichters – weil mindestens eine Dimension das Menschentum überschreitet: die ursprüngliche Natur. Nur die Natur hat außermenschliche Inhalte. Die Geschichte womit George bisher zu tun hatte war von vornherein menschlich. Jetzt hatte George das erstemal vormenschliches Sein zu vermenschlichen. Zur Verleibung des Gottes gehört auch die Bindung der Urstoffe ins gestaltige Menschtum. War diese gelungen, war auch die Natur in das Menschgesetz und ins leibhaft gestaltige Wort gebannt, so gab es fortan für George keine Unwelt mehr, so konnte er Gott und Welt als Gestalt, als Kosmos fassen, so war die Wirklichkeit all seiner Bilder gesichert.

Die Vermenschlichung der Natur ist erreicht wo sie Schicksal und Seele wird. Aber das Gesetz dieser beiden Menschzustände Georges ist Wandel und Tun .. das Gesetz der Natur ist Werden. Um die Natur zu vermenschlichen mußte er ihr Werden in Wandel und Tun bannen. Drum ist seine Natur im Jahr der Seele nicht, wie seine andren Welten, Sinnbild und Ausdruck ihres eigenen Gesetzes, sondern eines ihr von vornherein fremden, nur-menschlichen, das sich ihrer magisch bedient, um sich zu bekunden, und durch das ihr eigenes vormenschliches Gesetz dunkel hindurchscheint. Unter Magie verstehen wir die Bannung außermenschlicher Kräfte (über- oder untermenschlicher) in menschliche Macht oder Form. Die Natur vermenschlichen heißt sich in sie einfühlen oder sie magisch bezwingen:[132] das erste ist Romantik und gibt der Natur nicht eine menschliche Form, sondern einen menschlichen Sinn – oder man unterstellt, wie Goethe, den Menschen dem allgemeinen Naturgesetz: dem Werden, das zwar auch-menschlich, aber nicht wie Georges Schicksals- und Seelengesetz nur-menschlich ist. Hier liegt jener Grundunterschied zwischen Goethes Natur und der Georges. Goethe sieht den Menschen als ein Werde-wesen wie die Pflanze .. George sieht sogar die Pflanze, das Wachstum und Welktum, als ein Wandel- und Tat-wesen, als ein Schicksals- und Seelentum. Die ganze Natura, die Werdende, in Schicksal- und Seelenbilder zu bannen, das ist Georges Sprach-magie. Das ist heidnisch katholisches Erbe: George tut durch die Sprachweihe mit der Natur was die Kirche durch die Sakramente, zumal durch die Messe, also durch rhythmische Riten und Akte, mit Gott tut. Er zieht kraft menschlichen Zaubers das Außermenschliche in seine Gewalt. Der magische Dichter weiht also das kosmische Werden, das Jahr der Natur, zu einem menschlichen Akt, zu einem heiligen Ritus, zu einem Jahr der Seele und des Schicksals. Die Wachstums- und Welktumszustände sind bei ihm verzaubert zu Schicksals- und Seelenerscheinung, und nur hier vergegenwärtigt er Menschtum mit außermenschlichem Stoff. George will den Menschen erneuern durch Zusammenrufung aller Lebenskräfte, der menschlichen, der geschichtlichen, der natürlichen, der göttlichen. Von diesen setzen alle außer der Natur den Menschen bereits voraus, auch Gott: denn »Gott ist ein Schemen wenn ihr selbst vermürbt«. Der Mensch ist zwar – als ein Werden – auch Natur, aber die Natur nicht Mensch. Durch den Kairos erst wird das Geschehen zum Sein, zum menschlichen Augen-Blick: er bannt auch das Werden der Natur in nur menschliche Seele und Schicksal.

Für George ist die Natur keine Um-setzung seelischer Erregungen: von der einfühlenden Sympathie die aus der Natur einen erweiterten Menschen macht oder aus dem Menschen eine erlebnisfähige Natur .. die wertherisch den Werde- und Sterbedrang jedes Lebewesens vom Gräslein und Käferchen bis zum Allgott hinauf im pochenden Herzen mitspürt oder die unsichtbaren Regungen eines All-Körpers, einer All-Seele als menschliche Regungen geberdet, nachschwingt, nachspielt, von dem Wechselspiel zwischen Mikrokosmos und Makrokosmos,[133] das den Zauber aller Landschaftsdichtung seit Klopstock ausmacht, ist im Jahr der Seele nichts. Wie könnte auch da Wechselspiel sein wo Einheit ist! Dagegen hat kein Deutscher die erscheinende Natur, sei sie ruhendes Bild, als Landschaft, oder bewegter Vorgang, als Geschehen, so durchaus wahrgenommen und gekündet wie George. Sowohl ihre Umrisse, Farben und Formen, Geräusche und Stummheiten, ihr Flimmern, Zucken und Wehen .. ihre sämtlichen Sinnlichkeiten vom Fallen der Früchte und dem Knirschen des Kieses, dem Picken der Vögel und dem Nicken der Blumen bis zum Sausen der Stürme, von den Farben der Wespen bis zu den Beleuchtungsmassen des Spätherbstes und dem Sternenhimmel, als auch der sonst unmerkliche Gang der Atmosphäre durch das ganze Jahr, das Geheimgesicht (d.h. nicht: Hinter-sinn) und Zwischentreiben der Natur sind ihm offenbar und sagbar .. aber nicht als etwas Andres, sondern als sie selbst.

Er gibt nirgends Beschreibung von Einzelheiten, Stifterisch oder Jean Paulisch, nirgends Gemütsbeteiligung, die etwa das »Innere« im Äußeren fühlt, »durch die Oberfläche dringt«, sondern das einmalige Ganze, die Erscheinung des Kairos, die zugleich Gesicht, Geschick und Sinn enthält. Nirgends greift er mit der Seele hinter die Phänomene (wie die Romantiker) und Phänomen ist ihm das Sein und das Geschehen, nicht das Werden, nicht das »formumformende Weben«. Die Seele selbst, das Schicksal selbst ist ihm ganz Erscheinung, das heißt nicht »Schein«, Trug, Wahn, Maja, sondern Menschform des wirklichsten Seins, das »Wunderwerk der Endlichkeit«, mehr als alle noch so erhabenen Hintergedanken der Sinn- und Wertdeuter und der immer um-setzenden Tieflinge. Wie kein zweiter seit Shakespeare lebt er die ganze Kraft und Fülle seines Daseins ganz im jeweils wahrnehmbaren, erscheinenden, kündbaren Schicksalsaugenblick der Seele. Der Grund der Erscheinung erfüllt ihm die Erscheinung, die Dinge ihr eigenes Wesen, die Bilder ihre eigene Wirklichkeit, ohne eine fremde zu meinen oder zu versprechen. Die Schau ist für ihn der Sinn des Geschauten, die Idee selbst Erscheinung, die Gestalt selbst der Inhalt des Gestalteten wie des Gestaltenden. Die Hinterwelt ist für ihn eines mit der Vorderwelt, nämlich seelisch .. die Vorderwelt eines mit der Hinterwelt, nämlich sinnlich. Seine[134] ganze Geheimlehre lebt in seinem eingeweihten Leibe. Nur und gerade deshalb konnte er den Kosmos als solchen sehen, die Natur als ein Ganzes von Seelen- und Schicksals-Augen-Blicken eigener Fülle, statt eines (empirischen) Nebeneinanders von Sichtbarkeiten oder (intuitiven) Ineinanders von Fühlbarkeiten oder (metaphysischen) Hintereinanders von Bedeutungen oder (mystischen) Miteinanders von sichtbaren und fühlbaren Bedeutungen. Das einfachste und doch tiefste und schwerste Wissen hat dieser Dichter auch der Natur gegenüber: nämlich daß die wirklichen Dinge alle erscheinen, und daß Erscheinungen sie selbst sind, einerlei was sie bedeuten können. Seit den Griechen hat man es vergessen: der Leib ist Gott. Was Gott bedeutet ist eine Frage, aber keine Wirklichkeit.

George ist bis in alle Poren getränkt mit »Figur«. Von Kind auf tat er keinen Schritt ohne wahrzunehmen, und das Wahrgenommene ward ihm nicht bloß Eindruck oder Gegen-stand, sondern Leib und Seele. Nur einem solchen wird das sinnbildliche Schauen, das unreflektierte Ineinsschauen von Wesen, Art, Gewicht jeder Erscheinung und jedes Aussehens .. und nur wer solche sinnbildliche Schau magisch sagen, dem wesenhaftigen Urwort einbannen kann, so daß sie als Lautgeberde, als Lautbild unreflektiert wieder heraufzaubert was als Augen-Blick ihm erschienen, nur der konnte dies Jahr der Seele erfahren und ver-ewigen.

Schauen ist ja nicht bloß Bemerken, Beobachten, sondern, wie es das deutsche Wort tiefsinnig sagt, wahrnehmen, das heißt gerade: Sein in der Erscheinung fassen, Idee haben, Wirklichkeit mit dem Auge aufnehmen, Wahrheit empfangen als das Offenbare. Schauen ist aber auch nicht Hineingucken oder Herausgucken oder gar Dahintergucken. Es gibt kein Dahinter: Keiner schaut wirklich und Wirkliches der schon seine Reflexion »im Auge hat« – gleichviel ob empirische Reflexion oder meta-physische oder mystische. Wirklich schauen, wahrnehmen, heißt weder die Erscheinung leugnen wie der Hinter-weltler (Metaphysiker) noch die Idee leugnen wie der Vorderweltler (Empiriker) noch beide vertauschen oder mischen wie der Innenweltler (Mystiker), sondern die Erscheinung als Idee, als ewiges Urbild unmittelbar fassen, aber nicht Urbild eines andren, sondern ihrer selbst. Der gewöhnliche Beobachter sieht die Erscheinung entweder[135] getrübt durch seine Brillen, Reflexionen, oder bedingt durch ihr Vor und Nach, Um und Neben, durch ihre Relationen, nicht in ihrer Sinnenfülle, die Seinsfulle ist .. und der ungewöhnliche Denker will sie meist nicht sehen, sondern deuten, erkennen, d.h. nicht sie sehen, sondern etwas darin, dahinter oder darüber. Wir können uns kaum die Unmittelbarkeit des rundumfassenden Augen-Blicks vorstellen die nötig war, um gewisse Verse des Jahrs der Seele zu dichten, weil unser Denken (und damit unsre Rede) noch kaum reif ist für die Bezeichnung dieser Sinnenhaftigkeit: wir haben immer noch zuviel empirische und metaphysische Kategorien dafür in unserer Sprache und werden deshalb leicht nach einer der beiden Seiten mißverstanden, zumal Schicksal und Seele bei uns erlebte oder gedachte Mächte, d.h. Denkformen sind, bei George wahrgenommene Seinsart.

Nur wem wahrgenommenes Da-Sein wirklich ist, die Erscheinung volles Wesen, nicht Bedeutung oder Sinn, und sei es das Werden, der kann so vollkommen wahr-nehmen, so ganz im Bann, im Bilde sein. Wer Sinn sucht der blickt schon hinaus, der zerreißt schon den Bann, dessen Wort hat schon nicht den Zauber des Ganz-Hier oder des Ewigen Einmal, der deutet schon um .. er hat vielleicht ein Mehr oder Tiefer oder Höher als das Sein, aber das Sein hat er nicht ganz oder es hat ihn nicht ganz. Das Werden kann man nicht unmittelbar wahrnehmen als solches, nicht schauen (um die Zentralkraft des Wahrnehmens zu nennen), sondern man kann es aus Erscheinungen, aus Bildern, aus Seinsformen und -zuständen erschließen, erdeuten (wie Heraklit) oder man kann es unmittelbar erleben, innerlich mit-werden (wie Goethe und nach ihm Nietzsche oder Bergson). Doch dabei opfert man die unmittel-bare Schau, das Sein des Augen-Blicks. Nicht daß ein Werde-mensch von vornherein der eindringlichen Schau unfähig wäre: aber nie kann er von der Schau als solcher schon durchaus bis zum Rand erfüllt sein, nie den Augenblick so besitzen wie Faust es ersehnt, nie ganz im Zauber des Seins gebannt sein. Goethe hat diese faustische Not, das vergebliche »Verweile doch« tiefer gefühlt als je ein Mensch, gerade weil er der Schaufähigste und Schaubedürftigste unter allen Werdern war. Er hat aus dieser Not, einer urdeutschen Not, seine Tugend gemacht, und für das Werden, das er nicht wahrnahm, nur erlebte, die schönsten Gleichnisse[136] aus dem wahrnehmbaren Sein gefunden. Eine Not blieb es auch ihm, er hat nie als Dichter die Magie des in sich ewigen Augenblicks ganz in Sprache gebannt, sondern den vergänglichen zum Gleichnis der Ewigkeit, das Sein zum Träger des Werdens gemacht. In jedem seiner Augenblicke steckt das Werden, das ihn trägt, aber auch sprengt: keiner ist Ewigkeit, er bedeutet sie bloß.

George kennt die Not der Vergänglichkeit nicht, weil er keine Ewigkeit als endlose Dauer kennt. Er kennt Vergängnis: das ist ein Zustand, ein wahrnehmbarer Seelen- oder Schicksals-augenblick, nicht eine erlebbare Funktion oder Eigenschaft. Ihm ist das Sein wieder ganz wirklich, ganz erfüllt, ganz es selbst, ganz ewig, ganz Erscheinung, ganz magischer Augenblick, ganz Wahrnehmung, ganz Schau- Wesen und zaubervoll besessenes Wort. Auch die Natura, das Werden, hat er zurückgebannt ins ewige gegenwärtige, d.h. augenblickliche Sein, Da-Sein. Sein Kairos macht das Naturgeschehen, das wahrnehmbare (nicht wie das Natur-werden erlebbare) zum Sein, zur Erscheinung, zum menschlichen Augen-Blick, und das Jahr der Seele ist das Wort dieses Zaubers. Damit ist das unbedingte vollständige Da-Sein der deutschen Schau und Sprache zurückerobert worden. Alle großen Deutschen haben mindestens seit Luther das Sein entweder zerlöst in irgendeinen Sinn (Gott, Geist oder wie immer) oder umgesetzt in ein Werden. Dadurch wurde die Erscheinung und ihr Grund, der Leib, wenn nicht entwertet, so doch entwest, der Mensch ent-hoben und ent-bunden seiner Gegenwart, indem man ihm unter tausend Verkleidungen sein Hier entrückte .. die wahrnehmbare Welt wurde entleert und verdünnt zu einer Schein- oder Innen- oder Überwelt.

Ein Mißverständnis sei abgewehrt: wenn wir die Dichtung Georges gefüllter, gebannter nennen, weil er ein Sein wahrnehme, nicht ein Werden erlebe, so ist damit über die Wahrheit beider Weltanschauungen an sich, über ihren Glaubenswert gar nichts ausgesagt. Auch weiß ich daß »Sein« genau so sehr Abstraktion ist wie »Werden«. Unser Fachwort »Sein« enthält nicht mehr oder wahreres Leben als unser Fachwort »Werden«. Aber die seinsgläubige Lebensgesinnung, die uns jene Abstraktion »Sein« erst ermöglicht, ist wirklich und unterscheidbar von der werdegläubigen .. und für den Dichter[137] den Künstler, den Gestalter bedeutet – gleichviel was ihr Wahrheits- und Glaubensgehalt, ihr sittlicher Wert sein mag – die Seinsschau die gemäßere Form den wahrnehmbaren Augenblick ganz zu fassen und zu füllen. Sie ist für den Dichter gleichsam eine fruchtbarere »Arbeitshypothese« als die Werdeschau – gleichsam: denn sie ist ein Blutszwang, keine Arbeitshypothese. Aber wer gestalten will bedarf der Gestalt und die ist unmittelbar nur als Sein wahr-zunehmen .. das Werden ist schon eine Umsetzung.

Wer also primär Werden erlebt, ist als Gestalter – nur als solcher – im Nachteil gegenüber dem der »Sein« wahrnimmt. Ein Maler kann mit der Werdeschau überhaupt nichts anfangen .. ein Dichter kann sie bei der Allbedeutungskraft der Sprache zwar gleichnishaft versinnbilden, aber nicht unmittelbar und nicht magisch: denn die Seins-Gleichnisse, welche Werden bedeuten, können nicht zaubern und bannen. Insofern hat allerdings die Sprache der Seinsdichter, die ganz in ihrem jeweils wahrgenommenen Seins-Augenblick leben, größere Lebensdichte, Gegenwart, Magie, als die der Werdensdichter, denen ihr noch so wirklich gesehenes Sein wegdeutet auf etwas darin oder dahinter. Nur der Kairos-mensch, der Seins-gewahrer ist völlig inne seinem Da-sein. Denn freilich nur der leibhaftige Augenblick der Menschen hat volles Da-sein. Wie das Werden ist auch die »Ewigkeit« schon eine Umdeutung, ein Draußen, ein Wo-anders, und wer sich nicht im Augenblick als Da-sein ewig darlebt der erfährt Ewigkeit nicht wirklich, der kann sie denken, glauben, hoffen, wissen, aber nicht wahrnehmen noch zaubern. »Was ihr heut nicht leben könnt wird nie« .. jedes Leben ist nur Gegenwart .. jede Zukunft ist nur ein Projektion dessen was schon Da-sein hat.

Daß jeder Augenblick und nur der Augenblick ewig ist hebt die Kontinuität und das Gesetz des Charakters nicht auf, das in Augenblicken ganz lebt. Denn eben dies Gesetz des Charakters befähigt ja erst einen Menschen im Augenblick zu leben, und jeder seiner Augenblicke ist die Vergegenwärtigung und damit zugleich Form seines Charakters. Dies Gesetz ist nur eines, wie jeder Mensch nur ein Leben hat, aber es hat vielerlei Anwendungen und Erscheinungen: vom dumpfsten tierischen Trieb bis zur hellsten Weisheit, von der Gangart und Handschrift, vom Geschmack in Kost und Tracht bis[138] zur Wahl der Freunde und Lieben hat es unzählige Äußerungen, auf jeder Altersstufe einen anderen Grad der Helle, einen anderen Wirkungsraum von Augenblicken, einen an deren Seelen- und Schickssalsstoff.

Die einzelnen Augenblicke des Jahrs der Seele sind schwerer auf eine menschliche Einheit zu bringen als andere Werke Georges, eben weil in ihnen eine Seinsart mitschwingt, die menschlich immer nur umschrieben, aber nicht ausgedrückt werden kann: die Natur. Naturstimmungen oder Naturschilderungen sind nicht die Natur die im Jahr der Seele Gedicht geworden ist. So wenig wir die Idee einer Herbstlandschaft fassen, wenn wir unsere Herbstzustände – Schwermut oder Sehnen – aussprechen, oder ihre Farben und Massen, die Herbstgegenstände ausmalen, so wenig faßt man die Idee des Jahrs der Seele, wenn man die einzelnen Gesichte auf Stimmungen, Landschaften oder Vorgänge zurückführt. Man kann eine Idee des Algabal nennen: eine menschliche Spannung in einer menschlichen Haltung – Herrschertum, Priestertum. Hirten-, Ritters- und Kalifen-schicksale sind Menschenschicksale und als solche benennbar, denkbar. Im Teppich des Lebens ist das Gesetz selbst schon als Geist, im Siebenten Ring als Heiland, im Stern des Bundes als Lehre und Reich offenbar – lauter ursprüngliche Menschenformen, und daher Menschenformeln zugänglich. Man kann sagen, dies und dies erscheint, geschient, wirkt oder gilt in diesem Werk, und wenn man damit es auch nicht erschöpft, so kann man es doch deuten, tiefer oder flacher, ohne es umzudeuten, d.h. zu fälschen .. man kann ihm Sinn geben. Man nehme aber im Jahr der Seele etwa folgendes Gedicht:


Wir schreiten auf und ab im reichen flitter

Des buchenganges beinah bis zum tore

Und sehen außen in dem feld vom gitter

Den mandelbaum zum zweitenmal im flore.

Wir suchen nach den schattenfreien bänken

Dort wo uns niemals fremde stimmen scheuchten.

In träumen unsre arme sich verschränken.

Wir laben uns am langen milden leuchten

Wir fühlen dankbar wie zu leisem brausen

Von wipfeln strahlenspuren auf uns tropfen[139]

Und blicken nur und horchen wenn in pausen

Die reifen fruchte an den boden klopfen.


Sagt man hier: das ist eine Parklandschaft, so hat man nicht einmal den Begriff gefaßt, denn es ist zugleich das augenblickliche Leben zweier Seelen in dieser Stunde eben dieser unwiederbringlichen Parklandschaft. Sagt man, es ist der Gang eines Liebespaars im spätsommerlichen Park, so unterschlägt man die eigentliche Stunde, den besonderen Ort. Nennt man es die satte Herbststimmung eines Liebespaars, so vergißt man die volle runde Sichtbarkeit und Gegenwart des Natur-Schicksal- und Seelenraums. Es ist keine Stimmung: es ist Herbst so gut wie der Naturherbst selber. Stimmung ist etwa Goethes Herbstgefühl: »Fetter grüne, du Laub« – da ist das Gefühl das ein Herbst-anblick erregt wirklich das Motiv und das Herz des Gedichts. Wie bei Goethe das Herbstgefühl das völlig eigene und besondere dieser einmaligen Goethischen Stunde ist, so ist bei George nicht der Herbst, sondern seiner, eben dieser, einmal gesehen, unwiederholbar, dieser unersetzliche Herbst-augenblick, mit diesem einzigen Mandelbaum, diesen nie wieder fallenden Früchten, diesem Glanz auf den nur in dieser Minute schattenfreien Bänken – und all das nicht als Gefühl oder als Beobachtung, als Besonderes eines Allgemeinen, sondern als Einmaliges des Alls, als Nu der Ewigkeit, als Gesicht der Wirklichkeit, als Fülle des Da-Seins im Jetzt und Hier, innen und außen, Leben und Gesicht in einem.

Vor allem: es selbst, nichts anderes als eben das was es sagt und erscheint, ist es auch .. das magische Wort des magischen Augenblicks, das dessen Wirklichkeit west, nicht bloß bedeutet! Dieser Augenblick ist zwar durch einen Menschen gebannt und kann nicht ohne ihn erscheinen, nämlich nicht ohne die Sprache, aber er ist nicht menschlich – weder Menschenwerk wie die Paläste und Feste des Algabal noch Menschenleib wie der des Ringers oder des Saitenspielers, noch Menschensitte wie die Sporenwache, noch Menschengram wie im verlorenen Königtum, noch Menschenleben wie im Teppich, noch Menschengebet wie im Maximin, noch Menschenweisheit wie im Stern des Bundes. All solches schwingt mit in der magischen Sprache worin die Natur gebannt ist, aber das Gebannte selbst ist außermenschlich und entzieht sich jeder nur menschlichen[140] Deutung, hat keinen Menschen sinn. Drum wird das Jahr der Seele die Verzweiflung aller Ausleger bleiben und das immer lockende Wunder sprachlicher Magie. Dies macht es einzig in der Dichtkunst, vergleichbar nur mit den Zaubersprüchen der Naturvölker und vielleicht den Anfängen der Sprache, da der menschliche Laut, die leibliche Geberde, das Schauen der Natur und die Naturkräfte noch keimhaft zusammenlagen und das erste Benennen sie nicht nur anrief, sondern aufrief: da Wort, Schau und Wirklichkeit noch dumpf eins waren. Dasselbe aber ist George im Jahr der Seele auf dem Gipfel der gesamten Bildung, nach der Besonderung des Geistes, nach der Entwurzelung der Seele, in höchstgesteigerter Helle der Person gelungen mit der mannigfaltigsten, töne- und lichterreichsten, durch und durch geläuterten und entfalteten Sprache: die wirklich erfüllten Augen-Blicke des außermenschlichen All-lebens ins Wort zu zaubern.

Nochmals unterscheide ich diesen Zauber von allen anderen Arten der Naturschau. George versinnbildet nicht Natur in menschliche Göttergestalten wie der antike Mythus: dieser bindet nicht die einmaligen Naturaugenblicke, sondern die dauernden Naturkräfte, die zugleich Menschentriebe sind .. George be-seelt auch nicht das Außen mit seinem sympathetischen Innern, wie die neuere Naturlyrik. Er gibt Natur selbst und nicht sein Gefühl oder seine Deutung der Natur. Er gibt keinerlei Vermenschlichung »der« Natur, keinerlei sprachliche Umsetzung oder Umdeutung von Natur-erlebnissen in Bilder oder Stimmungen, sondern er gibt – nur er und nur im Jahr der Seele – einmalige Da-seins-augenblicke unmittelbarer Natur in menschlichen Zaubersprüchen. Will man die lyrische Gattung dieser Gedichte benennen (neben der Hymne, dem götterfeiernden Festgesang .. der Ode, der rhythmischen Ansprache an ein höheres Einzel- oder Gesamt-Du .. dem Lied, dem melodischen Gefühlsausdruck der Gegenwart, .. der Elegie, dem Gefühlsausdruck der Erinnerung), so wären sie Zauber-sprüche, d.h. rhythmischer oder melodischer Aufruf außermenschlichen Seins.

Eben darum ist es unmöglich den Inhalt des Jahrs der Seele zu fassen, Es ist leichter den Sinn des Faust anzugeben als den der Merseburger Sprüche .. denn der liegt nicht in einem Gedanken, nicht in einem Motiv, nicht einmal in der Form – all das sind Menschtümer,[141] nicht Naturtümer. Der »Zauber« ist weg, sobald er genannt wird: Zauber hat keinen Sinn .. nur der Mensch, nicht die Natur hat Sinn und den wir ihr geben ist unser Sinn, nicht ihrer. Sein bannt kein Sinn, nur der Zauber, und der läßt sich nur tun oder leiden, nicht verstehen oder deuten, kurz: er ist er selbst!

Die einzelnen Gedichte des Jahrs der Seele enthalten nun freilich menschliche Schwingungen genug in die man Sinn bringen kann, aber dieser läge nicht in dem Gedicht, sondern davor oder dahinter. Die schöpferische Schwermut worin das Werk empfangen, wovon es umwittert ist, die undurchbrechbare Einsamkeit des eigengesetzlichen Einzelwesens, die Vergängnis im Genuß wären etwa solche Elemente des rein-menschlichen Sinns, die man als »Leitmotive« mißdeuten könnte. Sie sind so wenig das eigentliche Wesen oder auch nur der Sinn des Werks wie das Wort »Sommer« oder »Herbst« der Sinn der einzelnen Sommer- und Herbst-augenblicke mit ihrem Wachstum, ihrem atmosphärischen Schauer, ihrem Licht, Raum und Geschehen und dem Zustand des gerade sie wahrnehmenden Menschen oder Paars ist. Denn genau so wirklich wie diese sinnlosen und zaubervollen Augenblicke, die nicht bloße Örter und Stunden, nicht bloße Vorgänge, nicht bloße Erlebnisse sind, sondern alles zusammen und durch dies Zusammen etwas anderes und mehres, genau so wirklich sind die Gedichte des Jahrs der Seele .. nicht Abbilder, nicht Sinnbilder, sondern sie selbst Das unterscheidet sie von dem sogenannten »magischen Idealismus« des Novalis: dieser ist willkürliche Geisterbeschwörung oder Traumkunst: er ruft ein Vorgestelltes auf, also ein Anderes .. er denkt etwas wirklich was nicht wirklich ist: er ist die Spiegelung der Fata Morgana durch Akt des Bewußtseins. Georges Zaubersprüche, die »nicht nach Willen« sind, sondern nur in der Schicksalsstunde ertönen können, enthalten die Welt die sie rufen, schaffen sie erst durch sich: der Ruf und das Gerufene sind eines .. Name und Genanntes ist dieselbe Wirklichkeit.

Dieser »Zauber« des Jahrs der Seele kann so wenig abgeleitet werden aus Gründen wie ein Sommermorgen oder ein Fluß oder ein Gebirg: er ist da und jeder der überhaupt Sinne und Sprachgefühl hat spürt ihn, auch wo er nicht versteht. Gerade das Jahr der Seele übt diese gefährliche und den gebildeten Menschen tief beunruhigende[142] Gewalt aus, noch ehe man ganz die Worte gefaßt hat. Sie ist nicht die Freude am Richtigen oder Erhabenen, nicht die Ausweitung des Gemüts durch große Gegenstände, nicht tragische Ergriffenheit oder holde Schwermut .. all solche Stimmungen mögen mitschwingen, doch sie erklären nicht den Schauer eines in jedem »Sinn« unverständlichen Gedichts wie dies:


Ihr tratet zu dem herde

Wo alle glut verstarb.

Licht war nur an der erde

Vom monde leichenfarb.


Ihr tauchtet in die aschen

Die bleichen finger ein

Mit suchen tasten haschen –

Wird es noch einmal schein!


Seht was mit trostgeberde

Der mond euch rät:

Tretet weg vom herde.

Es ist worden spät.


Weder was man hier sieht noch hört noch denken kann ist das Geheimnis und doch steckt es auch nicht dahinter. Es ist es selbst: die Gegenwart überseelischer Natur- und Schicksalsmächte in der Seelenwelt durch das augenblickliche Wort – nicht etwa der beredende Nachweis einer sogenannten vierten Dimension, die Reise von Jenseitsdingen in die dritte: das machen Occultisten, die nur umgekehrte Materialisten sind. Wenn man hier von einer vierten Dimension sprechen darf, so ist sie in einem solchen Spruch, er verkündet sie nicht. Die bloße Möglichkeit solcher Gedichte, hinter denen der Mystiker so wenig etwas finden wird wie der Vernünftler in ihnen und der Geschmäckler an ihnen, zeigt an daß die Sinnenwelt in eine neue Dimension tritt und eine neue Schicht des Lebens anhebt, welches seine dichterischen Zaubersprüche vorausruft, eh es ganz sichtbar wird. Zuerst ist immer das schöpferische Wort das Zeichen des neuen Leibes und des neuen Reiches: das Zeichen – nicht der Zeuger! denn wirklich sind sie schon, wenn das Wort möglich ist. Dies Reich ist durchaus von dieser Welt .. nicht eine neue Hinterwelt, sondern[143] die Fülle des Da-seins im all-bindenden, unentrinnbaren und unlösbaren Jetzt und Hier.

Erst vom Teppich des Lebens ab wird diese neue Menschwerdung der »Mächte« worin Natur Schicksal Seele ungeschieden liegen, deutlicher und verliert das rätselhafte Grauen, das besonders die »Traurigen Tänze« erfüllt. Denn hier ist der Dichter noch besessen von nicht-menschlichem Urleben. Diese Besessenheit ist der Grund alles echten Grauens, d.h. alles Seelenschauers. Das bloße Nervengruseln entsteht durch scheinbare oder wirkliche Aufhebung unserer Denk- und Erfahrungsgewohnheit, der Seelenschauer durch den unmittelbaren Anhauch der »Mächte«. Ich finde kein deutlicheres Gesamtwort für diese Stufe des umgestalten Urlebens, das nicht mehr Chaos und noch nicht Mensch, zugleich Natur und Schicksal und Seele als Kraft ist, aber nicht als Gestalt. Im Teppich ist der Zauber vollbracht der sich hier erst vollbringt: die Bannung der Mächte ins Menschtum.

Wenn wir das Jahr der Seele nicht in der Weise »erklären« d.h. aus einem menschlichen Sinn verstehen können wie Georges andere Werke, so gewahren wir doch so gut wie im wirklichen Jahr darin gewisse Witterungen und Beleuchtungen die wir deuten, indem wir sie benennen. Wie auch immer der »Zauber« sich Georges bemächtigt haben mag oder er sich des Zaubers (beides ist dasselbe, nur von der Welt oder vom Selbst aus gesehen) – er haftet doch immer an seiner Person und ihrem So-sein. Wenn er nicht aus ihr kommt, so empfängt er doch von ihr, indem er erscheint, als Dichtung seine Farbe. Durch das ganze Jahr der Seele waltet die Einheit von Natur Seele Schicksal, doch in jedem seiner Kreise schlägt eine andere Tönung dieser vielschillrigen Lebenstrias vor, wie in einem Menschen bald dieser bald jener Einschlag seiner Eltern und Ahnen vor-scheint.

Im ersten Kreis, der den Ablauf eines gelebten Jahres in Landschaftsaugenblicken vergegenwärtigt, schlägt die Farbe der Natur vor .. im zweiten, der Rückschau auf die Erfüllungen und Verzichte, Einsamkeiten und Gemeinschaften des geschlossenen Einzel-Daseins, die Farbe der Seele .. im dritten, der Feier der Geheimnisse und Gewalten unter denen jener Ablauf und dieses Da-Sein steht, die Farbe des Schicksals. Gemeinsam ist den drei Kreisen von dem Charakter des Dichters her die einheitliche Weihe der finstersten wie der strahlendsten[144] Augenblicke, die reife Festlichkeit des – von was auch besessenen – doch immer »sich selbst besitzenden Gemüts«, die stetige Glut und Spannung des bis zum Grunde leidenden und bis in den Grund bejahenden Herzens, das unabdingbare Maß des Ausdrucks an der äußersten Grenze wo ein Schritt in den Tod, ein Gedanke in den Wahnsinn, ein Wort in den Frevel führt. Den drei Kreisen gemeinsam von ihrer Empfängnis her ist die abgründige Trauer, der Schmerz der Welt die aus dem Schlaf heraufgeweckt ist, von Gottes ewiger Brust aus dem tiefsten Grunde losgewirkt, das »schmerzliche Ach« das in Goethes »Wiederfinden« den Schöpfungsakt begleitet, die sternlose Seinsnacht wie sie Michelangelos Geschöpfe umwittert. Und über dem ganzen Werk liegt noch der Flaum seiner besonderen Geburtsstunde – die düstre Innigkeit, Heimlichkeit und Zärtlichkeit der Sinne die zum erstenmal ganz gelöst vom Drängen und Ringen der eigentlichen Bildungskräfte sich einlassen in die heilige Stille der pflanzlichen und atmosphärischen Erde, in das erfüllte Schweigen des menschlosen Seins.

Diesem Grund des ganzen Werks entheben sich dann die Einzelmassen wie die Lokalfarben aus der Atmosphäre, von ihr mitbestimmt, sie mitbestimmend, und doch voll eigenen Glanzes: sie haben die besonderen Ereignisse dieser Lebensstufe in sich aufgenommen und kraft einer unerreichten Sprachverdichtung so restlos »verkocht« wie eine Blume die Säfte aus Boden und Witterung. Nicht anders dürfen wir Georges Tun und Leiden hier suchen, nicht als Bekenntnisse und Erlebnisse, d.h. als reflektiertes Leben – es führt sein un-mittelbares Eigenleben nur durch Farben und Formen der Mächte: Natur Seele Schicksal.

[Nicht oft genug kann der geläufige Irrtum abgewehrt werden, die Mitteilung von Gefühlen wie einem »der Schnabel gewachsen« sei etwas unmittelbares, weil sie das vorderste ist: es ist die Reflexion der nächsten Seelenschicht. Das Unmittelbare liegt in der Mitte, nicht auf der Fläche und nur von der Mitte her reden die innersten Kräfte, die zwar ganz mit persönlichem Leben durchdrungen, aber nie bloß persönliches Leben sind. Ohne Person würden sie nicht reden, aber nicht die Person will aus ihnen reden, sondern sie selbst: die »heilige Stimme«, Gott Natur Seele Schicksal.][145]

Dies Seelenjahr beginnt mit der »Fülle des Herbsttags«, der seine letzten Blumen und seine reifsten Früchte, seine Farben und Garben geerntet hat, und nachmittaglich lauter und firn ausruht zwischen der Glut des Sommers und den drohenden Novemberstürmen, von der einen noch golden umspielt und durchwärmt, von den andern schon unruhig umwittert. Ein befriedeter Park, mit der Üppigkeit des Wachstums, der Einsamkeit der Weite und der Heimlichkeit des Geheges, worin die Elemente der Schöpfung frei wuchern und spielen dürfen, doch nur für den Menschen und um ihn, dem Pan seine Rechte verlieh: das ist die Mitte dieses Herbstes und seiner schwermutigen Feier, der wissenden Liebe. Der menschliche Träger dieses Herbstes kennt alle Aufschwünge und Fieber der schönen Leidenschaft, und nicht an ihm ist es auf sie zu verzichten, denn das Jahr durchwandelt uns, mit oder ohne unseren Willen. Wir weichen seinen Schickungen nicht aus, sie sind ja nicht unser Weg, sondern unser Gang. Auch das Wissen um die Vergängnis der schönen Leidenschaft (nicht um ihre Vergänglichkeit, d.h. um ihr baldiges Ende, sondern um den Tod in ihrem gegenwärtigen Herzen) das trauervolle Wissen um die Undurchdringlichkeit des bloß menschlichen Du – diese Herbst-Weisheit ist schon eingegangen in Seele, Natur und Schicksal dieser Leidenschaft. Der Herbst entsagt nicht, weil er um den Winter besser weiß als der Mai, und für den Kairos-frommen ist der Winter kein Einwand gegen den Mai und den Herbst. Doch das Vorgefühl des Winters gehört zum Herbst so gut wie seine eigene Süße, ja es ist deren Reiz und Steigerung. Das Gefühl der Grenze rundet erst unsern Raum – so lang wir noch grenzenlose Weite vor uns wähnen, freuen wir uns nicht so am Nächsten, und jedes Nein das uns traurig macht bereichert nur unser gewisses Ja.

Zum erstenmal hat George in den Gedichten »Nach der Lese« diese Schwermut des Wissens um Vergängnis der Leidenschaft geerntet. Nicht mehr die Spannung, nicht der Verlust, nicht die Enttäuschung schafft hier Trauer, sondern die Fülle selbst hegt die Trauer in sich, die Reife selbst kennt ihr tödliches Geheimnis, und der schöne Augenblick glänzt und dunkelt nicht nur vom Stand der Sonne, sondern auch von innen her mit den Farben des Unterganges. Das gilt von der Natur wie von der Seele und vom Schicksal, sie alle drei haben[146] ihren Herbst, d.h. das voll-kommene Dasein, mit dem Licht, dem Gefühl und dem Ereignis der Grenze. Eine neue Art des amor fati oder der Kairos-frommheit wird in solchen Herbstgesängen laut. Bisher war der Herbst entweder die Ernte, ein jubelndes Winzerfest, ein letzter schwellender dionysischer Taumel, oder er war das Welken, der Abschied, die Vergänglichkeit. Er war die Erfüllung des Sommers oder die Verkündung des Winters. In Goethes Herbstbuch, dem Westöstlichen Diwan, ist er eine Spätjugend, ein Aufglühen, ein Nach-Sommer, ja ein Nach-Frühling. Bei Hölderlin ist er dionysisches Vorgefühl des Untergangs, Sprengung der Schalen .. bei Nietzsche halkyonischer Vorgenuß des Todes, güldene Heiterkeit und zumal die Ruhe des Spätnachmittags, die Zeit der seltenen vom stürmischsten Geist am reinsten genossenen Windstille, abermals sein Nicht-Selbst, sein Andres, sein Wider-Spiel. Bei George ist auch der Herbst Gegenwart, die ihr Vorher und Nachher in sich selbst trägt, reiner und ausschließlicher als je früher: die Reife .. weder Welke noch Verzicht noch Genuß noch Sterben, sondern Er-füllung der nun erkannten Zeit- und Raumgrenze.

Grenze ist die Vergängnis, Grenze die Einsamkeit und Grenze das Wissen selbst. Wirksam waren diese Grenzen immer, bald als Seele von innen bindend und hemmend, bald als Schicksal von außen engend und pressend: jetzt erst werden sie gelebt als Natur, Reifezustand, gewachsenes Wissen, innen geläutert und außen umhegt – herbstlicher Tag und herbstlicher Park. Reife als Fülle die endet und als Grenze die erfüllt, vollendet: das ist Georges Herbst – und die Trauer die ihn beglänzt und verdunkelt ist die klaglose Einsamkeit der immer erfüllten und nie von sich selber erlösten, gotthaltigen, aber gottblinden Natur .. sie hat kein Du, auch der Dichter dieses Buchs hat noch nicht sein wahres Du: das worin er hier sich spiegelt nimmt ihn nicht auf, sondern wirft ihn nur wieder zurück auf sich selbst. Das ist der Sinn des Vorworts: »selten sind so sehr wie in diesem buch Ich und Du dieselbe seele«. Das ist die Natur solcher Verse wie die:

Ich zeige euch in der erfüllung das grausamste schicksal und der Schicksalsgrund dieses traurigsten Gedichts:


Dies leid und diese last: zu bannen

Was nah erst war und mein.[147]

Vergebliches die arme spannen

Nach dem was nur mehr schein.


Dies heilungslose sich betäuben

Mit eitlem nein und kein.

Dies unbegründete sich sträuben.

Dies unabwendbar-sein.


Beklemmendes gefühl der schwere

Auf müdgewordner pein.

Dann dieses dumpfe weh der leere.

O dies mit mir allein!


Die Fülle die keine Füllung außer sich hat, die um sich, an der Grenze, die Leere hat .. deren Du »was nah erst war und mein« zuletzt doch nein und kein wird, diese unabwendbare Einsamkeit ist naturhaft, und wo die Natur Bewußtsein und Sprache, d.h. wo sie Person wird, muß sie so sprechen. George ist hier nur der persönliche Mund des dumpfen Natur-Schmerzes: immer wiederkehrende unvergängliche Vergängnis und unerlösbare Einsamkeit. Das ist seine damalige Stufe.

Was der Herbst als Wissen in sich hegt, das ist der Winter als gelebter Zustand: die Endschaft des ewigen Zirkels von Blühen, Reifen, Welken oder von Erschaffen, Besitzen, Verlieren! Auch hier amor fati: die Grenze selber redet hier, nicht der Begrenzte, und darum ist dieser Abschnitt »Waller im Schnee«, die Winternatur dieser Seele, fast heller ab ihr Herbst. Denn der Herbst fühlt die Grenze als das Andre, der Winter als sein Eigen, und was dort umhegt wird das hegt hier selbst. Der Winter ist die Hülle, nicht die Fülle, er ist Schoß, nicht Frucht, er ist ganz bedeckte und gefriedete Erde, die nichts mehr verlieren, alles wieder erwarten kann. Oder er ist der völlig geschlossene Raum, der keine Blüten und Früchte mehr treibt, doch der Seele erst ganz den Reichtum und die Armut ihrer blütenlosen Einsamkeit, die Erhabenheit des Begrenztseins, des Grenze-seins offenbart. Er ist »die tiefe kalte winterliche Stille«, die reinste Einkehr der Natur in sich selbst, die Rückkehr in den fruchtbaren Schlaf.

Die Haft des Ich im eignen Dasein, die Kluft zwischen Ich und Du wird hier hingenommen, jenseits der Leidenschaft, die in den[148] Herbstgedichten sie noch überglüht. Nicht mehr die Trennung, sondern das Getrenntsein, nicht mehr die Vollendung, sondern die Endschaft lebt hier, lebt mit gleicher Würde und Weihe wie im Herbst die Reife mit dem traurigen Wissen der Grenze. Auch hier kein Verzicht, sondern Erfüllung der Stunde als des jeweils ganzen Lebens, und sei es Winter, Endschaft, Öde. Auch dies wird nicht abgewehrt, nicht beklagt, sondern mit der gleichen Treue gut geheißen wie die Fülle ...


Noch zwingt mich treue über dir zu wachen

Und deines duldens schönheit daß ich weile.


Die Natur ist in diesem ganzen Buch das Gesicht der Mächte gegen die es keinen Einspruch gibt. Man mag der Moira trotzen und die Tyche zu binden oder zu belisten versuchen: niemand ändert den Jahreslauf oder umgeht Geburt und Grab. Die Naturgesetze als Schicksalsgesetze zu ehren hat Goethe schon gelehrt .. die Schicksalsgesetze als Natur und Seele zu leben, das ist die Frommheit des »Wallers im Schnee«.

Erst der Winter bringt diese Frommheit zu ihrer vollen Macht: denn erst der Zustand kann sie zeigen der keinen Taumel, keine Pracht, keinen Rausch mehr bringt, keine Blüte und keine Frucht. Der Winter ist sonst in der ganzen Dichtung der Tod, das weiße Grauen, die Verneinung, der Frost, oder der malerische Schauplatz geselliger Feste und Spiele, der prickelnde Natur-kontrast, die eisige Folie zu den warmen Freuden der Menschen. George ist der erste Dichter der den einsamen Winter, seine Heimlichkeit, das Herz der Kälte, das »Schicksal des winterlichen Fundes«, die Endschaft der Liebe, nicht als tragisches Ereignis, sondern als Bestimmung und Lage geheiligt hat. Der Winter ist ihm so volles Leben, so schwer von Gegenwart und Blut, so ganz bejaht wie gelitten, so ganz durchglüht wie durchstarrt, mit gleicher Inbrunst wahrgenommen und schöngenommen wie die Monate des Überschwangs. Er zuerst hat den Pan, ja den Dionysos auch im Winter gespürt, seine Psyche singt unter den Eisblumen so süß und wach, so geheimnisvoll und zauberisch wie unter Rosen und Flieder, unter Trauben und Äpfeln. Wo glänzt und ertönt so die »pracht der stillen erde«


In ihrem silberlaub und kühlen strahle
[149]

Wo ist die winterliche Heimlichkeit, »der sanfte Reiz des Zimmers« »der trauten Winkel Raunen« so Gesicht und Gesang, wer offenbarte vor George das frohe Grauen eisiger Mondabende, den Märchenschauder »von nackter Helle und von blassen Düften«, die schweigsamen Gänge am


Eisigklaren tiefentschlafnen flusse ...


Wer konnte all solche Winteraugenblicke aus ihrer malerischen Starre oder Stimmung zum magischen Sprachleben erlösen, als wer sie gelebt hatte! Und welcher Dichter vor George war »einsam« genug, um nicht nur die Stimmung des Winters, sondern ihn selbst, seine Natur zu wissen, wer war vor ihm hinabgestiegen in die kosmischen Grüfte, wo


Die trübe liebe wächst im reif der qualen.


Die winterliche Landschaft war früher eine Gemütsstimmung oder ein Schicksal das man floh oder beklagte oder verneinte: bei George ist sie Natur die er bejaht und heiligt durch innersten Seelengesang. Der Abgrund den der Waller im Schnee durchmessen hat ist die tiefste winterliche Verlassenheit. Hier ist die Liebe selbst das Ende und soll es sein. Auf dieser Stufe kennt der Dichter keinen Frühling: die Vita Nuova, eben der Frühling ist Anfang, Zersprengung der Grenzen, Erwachen des unbekannten Gottes, der Weg ins Offene: das Jahr der Seele ist »Erfüllung« der Grenzen bis zum Ende und steht unter dem Bann der ungelösten Natureinsamkeit, sie mag hell oder düster oder fahl gefärbt sein. Es ist in einem herbstlichen Seelen- und Schicksalsstand empfangen, darum beginnt es mit dem Herbst und die Form unter der all seine Inhalte erscheinen kann nur die »Erfüllung« gegebener Grenzen sein. Die Naturbindung, die unerlöste Einsamkeit schließt nicht das Glück und die Freude aus, doch den Aufgang, das Beginnen, das zur Natur des Frühlings gehört. Noch wandelt George auf der geistlosen Mächtestufe: die Stunde ist noch nicht gekommen da er aus der Natur, die sein Jahr der Seele bindet, weil er mit ihr eins ist, ins Offene treten darf, da der Gott, der die Natur und die Seele aus ihrer Einsamkeit löst durch einen neuen Bund, ihm sich offenbart, um Sinne und Worte zu wecken für beginnliche Welt, für Auftrieb, Anfang, für Frühling. Der Frühling ist ein Gott der Frühe. Das Jahr der Seele ist ein Buch der Grenze,[150] der Erfüllung, die – man denke das Wort recht durch – immer Vollendung, d.h. ob Herbst ob Winter, ob Freude ob Trauer, Endschaft ist. Auch die glückliche Liebe, das Finden des Du, die Blüte des Lebens kann in diesem Bereich kein Beginn neuer Welt sein und muß eingetaucht bleiben in die Luft der Vollendung.

Sie erscheint, nach der Erfüllung der Herbstreife und der Erfüllung der Winter-Endschaft als Erfüllung des Blühens: »Sieg des Sommers«. Nicht als Ausbruch und Durchbruch ist die Blüte hier sichtbar, sondern als vollendeter Zustand. Das Jahr das mit der um Vergängnis wissenden Reife begann schließt mit der Reife des wahn- und fragelosen Blühens, mit dem Glanz des höchsten Sonnenstandes, mit der Vereinigung getrennter Lippen und der rückhaltlosen Freude des schönen Augenblicks. Die vollkommene Zeit ist da die nicht voraus- und zurückdenkt, die Aufgang und Untergang des Jahres in sich aufhebt – die Pan-Stunde des entschatteten Lichts, der wunschlosen Stille, da die Schöpfung sich selbst genießt und auf dem Gipfel ihrer Kräfte ohne die Spannung des Wachstums und die Schlaffung des Welktums sich dehnt im seligen Gleichgewicht ihrer Kräfte. Hier ist keine Sehnsucht – denn Sehnsucht ist Zuviel oder Zuwenig, ist Blüte die zur Frucht drängt, oder Knospe die springen will. Hier ist keine Schwermut – denn Schwermut ist Frucht die fallen will – und keine Vergängnis worin das Welken schon nagt. Diese vollkommene Zeit, die Erfüllung der Blüte selbst, feiert der Sieg des Sommers, und da hier Natur Schicksal Seele nur eines sind, so vergißt auch die Seele hier was trennt und ist solange ganz das was die Natur hier ist: Einheit mit ihren eigenen Grenzen. Die Grenzen selbst gehören hier zur Fülle, sie werden nicht als solche wahrgenommen, sondern genossen: die Einsamkeit als Friede, die Endlichkeit als Ründe. Darum gibt es hier keine Trennung zwischen dem Ich und Du, nicht weil sie eines wären, sondern weil im bräutlichen Nu hier nicht das Gefühl der Vergängnis, die Farbe des Endes liegt. Der Sommer ist nicht die mystische Einheit, nicht der Vernichter der Grenzen, nur ihr Verklärer und Verschönerer. Die Zweiheit selber ist hier nicht die unüberschreitbare Kluft zwischen Ich und Du, sondern das Beieinander, das Zusammen, die Paarung. So erscheint hier die Liebe als die hohe Zeit
[151]

die in ihrer lohe

Gestalten um uns tilgte und gewalten,


als die Versöhnung zwischen Wunschbild und Wahrheit:


Und törig nennt als übel zu befahren

Daß ihr in euch schon ferne bilder küßtet

Und daß ihr niemals zu versöhnen wüßtet

Den kuß im traum empfangen und den wahren.


Sie ist die Heilung der alten Risse, das Genügen an der gegenwärtigen Freude, sie schweigt alle Fragen, Sorgen und Zweifel mit dem brennenden Kuß.

Auch dieser Jahreszustand ist George ganz gewesen und ganz hat er ihn offenbart. Der Sieg des Sommers ist die tönereichste und farbevollste Feier der Blumenernte, des Glutwinds, der summenden Gemarken, der goldenen Lande und der tiefen Heimlichkeit sommerlicher Wälder, Gärten und Schluchten, der süßen und schwülen Dämmerungssterne. Kein Dichter hat jemals die Glut und Helle, den Glanz und die samtne Stille, das Summen und Tönen, das Schmiegen und Flimmern des Sommers, die Seelenmusik dieser geheimsten und offensten Stunde des Jahres so erklingen lassen, es sei denn Jean Paul. Doch nur George hat zugleich ihre Schicksalsfarbe, ihr Gesetz mitverlautet, es bleibt nicht bei einer orgiastischen Musik und einer unverbindlichen Zauberei wie bei dem Meister des Titan. Die Natur ist bei George kein Schauplatz für schöne Episoden, sondern eine Lage seines Gesamt-Daseins, ein Gesicht seines Lebens-Gesetzes: darum ist auch sein Sommer erfüllt mit der ganzen Weihe des schickalvollen Herzens, nicht bloß Musik und Traum.

Wie die Seele hier Naturschicksal ist und dadurch erst die Natur so innnig-offenbar macht, so entbindet auch die Natur kraft dieser Einheit erst das unmittelbare Seelenschicksal, das vom Algabal ab bis zu den Hängenden Gärten in Geschichts-Sinnbildern sprach. Vorher lag es noch dumpf in der einfachen Spannung des Herzens. Schicksal tritt erst heraus wo das Ich eine Welt findet. Die naturhafte Seele als Ausdruck oder Farbe ihres Schicksals, das ist der Gehalt der »Überschriften und Widmungen«, die das Mittelstück des Jahrs der Seele bilden. Ihre erste Gruppe umfaßt die Überschau des[152] Gesamtlebens dieser Stufe, ihre zweite die Rückschau auf die Naturschicksale des bewegten Herzens, die dritte die Umschau auf Schicksals-gemeinschaften, den Bildersaal der zugehörigen Menschen mit ihrem Mein und Dein. Diese Gedichte geben keinen Ablauf und keine Seelen-Augenblicke des Natur-Geschehens, sondern natürliche Reifezustände der Seele. Die Weihe, die Einsamkeit, die Leidenschaft, die Erhebungen und Ergebungen, deren Geschichtsformen wir schon kennen, wandeln sich hier zu Naturformen der Seele. Was im Algabal sich als Herrschertum oder Priestertum, in den Hirtengedichten als der Wundervogel der schönen Insel, in den Hängenden Gärten als morgenländische Mär inkarniert (inkarniert, nicht maskiert) der Wunsch des höheren Menschen nach seinem eigen-reinen Reich, das spricht sich hier als Natur-schicksal des Dichters aus. Hier zum erstenmal singt George, in den zwei mächtigsten und längsten Gesängen des Werks, sein Sehertum selbst, nicht mehr als Seelenzustand wie in den Hymnen (»Weihe«) und noch nicht als Gesetz wie im »Vorspiel« oder als Sendung wie in den »Zeitgedichten« oder als Amt wie im Stern des Bundes, sondern als Natur und Schicksal der so gearteten Seele: die schmerzliche und selige Fülle der Gesichte, das Verlangen nach dem geschwisterlich vernehmenden Ohr, den Drang nach der erhabenen Verkündung der heiligen Schau. (»Zu meinen träumen floh ich vor dem volke« und »Des Sehers wort ist wenigen gemeinsam«.) Das naturgegebene Schicksal des Vates hat hier seine feierlichste Weise gefunden seit Hölderlins letzten Hymnen. In dieselbe Reihe gehören die Schicksalslieder von der naturgegebenen Opferreinheit und Opferqual der Berufenen, von der Schwermut der Fülle, von dem unverlierbaren »Freudengraun« der lauteren Frühe, dem lebenslangen Zauber der Jugendweihe und dem Rätsel der vorbestimmten, mitwandelnden, verhängnisträchtigen Zukunft. Schicksalslieder sind es allesamt, wie später die Tag- und Nachtgesänge von Traum und Tod: das gesamte Dasein der Seele ertönt von immer anderen Gipfeln ihres vielgipfeligen Weges aus .. nicht einzelne Augenblicke, sondern die Überschau selbst schafft Schauer und Psalm. Die Lieder von Traum und Tod stimmt der Geist des Lebens an .. hier singt noch die naturgebundene Seele.

An diese Schicksalslieder schließen sich dann einzelne Augenblicke[153] der Freude und der Qual, schöne Tage der Liebe, ganz eins mit sinnlich zarter, schwebender, schwellender, wehender Landschaft, und Nächte voll finstern Horchens, Bebens und Verstummens, so durchaus naturhafte Nacht wie sie früher in Georges Dichtung nicht denkbar war, und wieder so ungreifbar bild- und sinnlos nackte Seele wie sie jetzt erst Sprache gefunden. Die dritte Gruppe der Widmungen endlich umfaßt die Naturformen der persönlichen Gesinnung: Teilnahme und Scheu, Ja und Nein, Selbstbewahrung, Auswahl, Nehmen und Geben, Dank und Wink des Dichters an seinesgleichen: die Schicksals-Grenzen zwischen seiner Seele und den Nächsten. Grenze als Berührung zugleich und als Trennung: Huldigung an die erfinderisch zarte Güte, den unwillkürlichen Adel, die Schmerzgemeinschaft, das festliche Leben, an die Genossen lauten Überschwangs und schöpferischer Begeisterung, Abwehr schon hier jeder Grenzverletzung durch Begier, Wahn oder Taumel, Zuspruch an das heilbare Leid, Ehrung der unüberbrückbaren Klüfte, Warnung vor Unmaß, Aufruf der verwandten Kräfte im Gegner und Anerkennung des fremden Gesetzes im Freunde. Was im ersten Teil des Werkes die Landschaften und Jahreszeiten sind das ist hier die Geselligkeit, der Menschenkreis der einsamen Seele: natur- und schicksalhaftes Maß, Raum und Grenze.

Die beiden ersten Teile lassen sich, wenn auch nicht erklären, so doch anschauen von zwei uns faßbaren Gesichtern der Mächtetrias aus die darin waltet: die Natur können wir sinnlich, die Seele geistig fassen. Die »Traurigen Tänze« tragen die Farbe des Schicksals und zwar eines Schicksals das so wenig geistig faßbar ist wie die Natur und so wenig sinnlich faßbar wie die Seele. Diese Gedichte entziehen sich daher am meisten der menschlichen Deutung und sind am reinsten »Zaubersprüche«. Die »Mächte« tönen hier, wenn auch getränkt mit der ganzen Fülle wahrgenommener Natur und gespannt von jedem Seelenschwingen, am unmittelbarsten als Schicksalsmächte, und wer wüßte über diese unmittelbar etwas auszusagen! Wie George die Natur nicht mythisch und nicht romantisch, sondern magisch bannt, so auch das mit seiner Natur und seiner Seele einsgewordene Schicksal. Nur soweit das Schicksal gefärbt ist von Natur und Seele, kann man es hier bezeichnen .. soweit Natur und Seele gefärbt sind vom[154] Schicksal bleiben sie unfaßlich. Darum sind die Traurigen Tänze das schlechthin »unverständliche« Buch Georges, wegen der Dunkelheit nicht ihres Ausdrucks, sondern ihres Ursprungs. Sie entstammen einem bisher noch nicht wahrgenommenen Lebensraum, wo das sichtbare Da-sein, das fühlbare So-sein und das transzendente Geschehen eines sind. Vielleicht erscheint dieser Raum einmal und dann wird man die Traurigen Tänze so verstehen können (d.h. freilich nicht auflösen und erschöpfen) wie heute ein Gedicht Goethes. Bis heute sind sie das einzige Zeugnis von und aus diesem Bereich, und nur er gibt von ihnen Kunde, wie sie von ihm. Gewiß sind auch hier Naturaugenblicke wie die Herbst- und Sommergedichte des ersten Teils, und Seelen-augenblicke wie in den Widmungen. Ein Gedicht wie dies:


Der hügel wo wir wandeln liegt im schatten

Indeß der drüben noch im lichte webt

Der mond auf seinen zarten grünen matten

Nur erst als kleine weiße wolke schwebt.


Die straßen weithin deutend werden blasser

Den wandrern bietet ein gelispel halt –

Ist es vom berg ein unsichtbares wasser

Ist es ein vogel der sein schlaflied lallt?


Der dunkelfalter zwei die sich verfrühten

Verfolgen sich von halm zu halm im scherz ...

Der rain bereitet aus gesträuch und blüten

Den duft des abends für gedämpften schmerz


scheint nur Landschaft: es ist jedoch die Landschaft eines Schicksals, nicht wie etwa die Parkgedichte »Nach der Lese« ein Schicksal das als Herbstlandschaft sich vollzieht. Alles ist in diesem Mondgedicht gelöst aus seinem Naturtum, es ist nicht Herbst, nicht Park .. Hügel, Matten, Wasser, Falter sind schweigsam umweht von einem Wind der keiner Jahreszeit angehört, auch nicht dem »gedämpften Schmerz« sondern der »geschieht«. Alles ist noch da wie in der Natur, ist auch Zustand, aber nicht nur Grenze und Erfüllung, sondern zugleich Verhängnis. Und eben dies Verhängnis waltet überall in den Traurigen[155] Tänzen und erst in ihnen. Es waltet als Landschaft in dem eben angeführten, oder in den Spätjahr-strophen:


Wenn auch nicht mehr uns beschert ist

Als noch ein rundgang zu zwein.


Es dringt deutlicher aus den Liedern des Bettlers und den Weisen des blöden Knaben, aus den Andenken an rührende Schatten und Gestalten, und es durchbricht das Naturgeschehen und die Menschengeberde mit den beklemmend kurzen Traum- und Zaubertönen, die Raum Zeit Bewegung und Bild aufheben in dem Grauen eines Verhängnisses jenseits von Schauder und Gram, jenseits von Schrecknissen des Auges und des Geistes .. Verhängnis zugleich als Melodie, als Gesicht und als Wirbel. »Verhängnis«: das ist unser eigenes Blut und das unserer Ahnen, es ist die Luft die uns umgibt und Geschichte die wir hegen, Natur die uns nährt, Seele die uns treibt, Schicksalsaugenblick jedes Schrittes und Begegnisses, Gesetz unseres Daseins. Was wir sind, was wir erfahren, was wir tun, all das ist Verhängnis. Bald das eine, bald das andre der mehr oder minder sinnlichen Elemente kommt nach oben, wie Wellen eines Stroms, aber wo man sie zu fassen glaubt, versinken sie wieder oder treiben davon. Das ganze bisherige Leben des Dichters, seine Ursprünge, seine Natur, sind aufgelöst in die bildlose und sinntaube, aber bilder- und sinnträchtige Nacht seines Schicksals.

Das Schicksal ist auf der Mächtestufe: Verhängnis – noch nicht geistig, noch nicht gotthaft – nicht mehr bloß gelebte Leidenschaft, noch nicht offenbartes Gesetz. Das Schicksal selbst ist der letzte dunkle Himmel bis zu dem der Dichter hier schauen kann, der seine Seele wie seine Natur mit einwölbt. Die letzte Grenze die ihn umschließt, ihn auf sein Selbst zurückwirft, die er ausfüllen muß, heißt Verhängnis, und dies Verhängnis, wie voll und reich auch immer, erscheint menschlich, genau wie die Natur und die Seele der Mächtetrias, als abgründige Einsamkeit. Die Einsamkeit des »Ich bin ich selbst allein«, die erst durch Verleibung des Gottes, durch Menschwerdung der Mächte erlöst werden kann, diese Einsamkeit ist der Grund, die schöpferische Nacht woraus Natur Seele Schicksal kommen. Am unmittelbarsten künden ihn die Traurigen Tänze. Hier ging kein Weg weiter, keiner zurück. Auch das Jahr der Seele ist das Ende[156] einer Lebensstufe, d.h. für den Menschen des Hier und Jetzt, solang er auf ihr steht, des Lebens selbst, um so düsterer je größer die vollendete Fülle, um so trostloser je umfassender das »Einsame« war.

Quelle:
Gundolf, Friedrich: George. Berlin 31930, S. 124-157.
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