Zweiter Auftritt.


[124] Lady Macclesfield. Miß Ellen.


LADY. Miß, entschuldigen Sie mein Ausbleiben. Ich wollte den Brief erst lesen, den Sie mir vor einigen Tagen schickten.

MISS ELLEN. Jetzt erst?

LADY. Als ich ihn erbrach, las ich Ihre Unterschrift – Sie sind Schauspielerin?

MISS ELLEN. Das bin ich.

LADY. Ich achte diesen Stand insofern, als eine große Selbstverleugnung dazu gehört, ihn zu ergreifen und sich von der übrigen Gesellschaft gleichsam freiwillig auszuschließen – indessen hielt ich Ihren Brief für nicht so dringend –

MISS ELLEN. Und nun Sie ihn gelesen?

LADY. Sie müssen es hoch aufnehmen, Miß, daß ich mit Ihnen über einen Gegenstand rede, dessen bisher in meiner Gegenwart niemand, ich sage niemand erwähnen durfte. Nun gut. Ihnen will ich zuerst erwidern: Sie sind Schauspielerin, Sie finden Ihren Ruhm darin, die menschlichen Leidenschaften greller aufzutragen, als selbst die Natur sie koloriert; so haben Sie auch hier nur die Farben gewählt, für welche sich in Wirklichkeit kaum die entsprechenden Mischungen finden würden –

MISS ELLEN. Kann etwas wirklicher sein als die Gefahr, in der Ihr Sich verbessernd. – in der Richard Savage schwebt?

LADY. Nochmals! Sie sind nicht fähig, Miß, über die Dinge zu urteilen, wie sie sind. Sie werden aus dem Flug dieses Straußes, der mit dem Fuß kaum die Erde zu verlieren wagt, immer den Flug eines Adlers machen. Die Schauspieler kommen nicht in die Lage, einfache Gefühle, wie sie die wirkliche Erfahrung des Lebens darbietet, zu zeichnen; ein Schmerz, der nicht mit den Händen gestikuliert, ist für sie – Resignation; eine Freude, die nicht mit fliegenden Haaren tobt, nennen sie Kälte; ewig in der Traumwelt erhitzter Phantasien weilend, machen sie an das Leben Ansprüche, denen das Leben nicht genügen kann.

MISS ELLEN. Mylady, wie verkennen Sie meinen Stand! Wir armen Schauspieler verdienen Ihre Vorwürfe, wenn ein schärferes Auge, ein beweglicheres Herz, ein treueres Gedächtnis,[124] als sich mitten im Alltagsleben bewahren läßt, einen Vorwurf verdienen. Die Blumen, die Sie kalt zertreten, die pflücken wir. Auf dem Feld der Erfahrung sammeln wir diese kleinen Blumen, die Ihnen zu gering erscheinen, und binden sie zu Sträußen und Kränzen, weil abends die Entfernungen der Bühne zu groß sind, um aus ihnen das Kleine deutlich wahrzunehmen. Sie dürfen, wenn Sie einen Bettler am Wege sehen, mit einem gespendeten Almosen an ihm vorübergehen, wir müssen stehen bleiben, ihn nach seinem Kummer fragen und jene Blicke beobachten, die die vorüberwandelnde Menge stumpf und kalt auf seine Blöße wirft –

LADY. Gut. Sie haben das darzustellen und müssen Ihre Studien machen. Doch bei einem vorkommenden einzelnen Fall, wie ihn das einfache Leben darbietet, werden Sie den ganzen Reichtum von Erfahrungen, die Sie bei ähnlichen Lagen gesammelt haben, mitanzubringen suchen und in dieser Art nie zu einem einfachen und natürlichen Gefühl kommen, wie dem Leben es geziemt.

MISS ELLEN. Nein, Mylady! Nein! Wenn ich des Abends die Schminke von meinen Wangen nehme, den Flittertand einer phantastischen Garderobe ablege und zu den Empfindungen hinabsteige, die das Leben mir, als meine Aufgabe zu durchkosten gab – o glauben Sie, dann bedarf auch ich der Phrase nicht, um den Schmerz über ein seit frühester Jugend einsames Dasein zu fühlen, der Phrase nicht, um die Bilder einer frühvollendeten, unvergeßlichen Mutter, einer in ihren schönsten Hoffnungen betrogenen und getäuschten Schwester, eines Bruders vorzuzaubern, der in Indien diente und sein Grab in den Wellen des Ozeans fand ... O, Mylady, wenn wir dem lauschenden Zuhörer in den Schmerzen, die wir auf der Bühne wiedergeben, nur eine feine Berechnung der Beobachtung und der Kunst zu entwickeln scheinen, wie oft geben wir da nur unsere eigenen Tränen wieder und beschwören Empfindungen aus den Ruinen unserer Vergangenheit herauf, die wir nicht zu erheucheln brauchen – – Doch – ich – – erwähne alles das nur, weil ich Verwandte habe, die zugegen waren, als vor zwanzig Jahren die schottische Leibgarde nach Indien eingeschifft wurde, bei welcher – Graf Rivers stand –

LADY. Ha! Sie wagen –? Mit allmählicher Beherrschung. Sie fordern mich in Ihrem Briefe auf, an die Königin eine Bittschrift einzureichen für die verwirkte Freiheit eines Abenteurers, der mir durch einen schändlichen Mord einen – – so nahen Verwandten – raubte –[125]

MISS ELLEN. Nahen Verwandten? Der Bruder Ihres so ungeliebten und so wenig vermißten Gatten könnte Ihnen näher verwandt sein als der Sohn jenes Lord Rivers –?

LADY. Mißbrauchen Sie, sag' ich, meine Geduld nicht –!

MISS ELLEN. Des Grafen Rivers, der allerdings Ihr Herz betrog – in Indien die Tochter des Gouverneurs zum Weibe nahm und – von Ihnen nicht gerächt zu werden brauchte. Er wurde ein Opfer des Klimas, vielleicht der Reue und des gefolterten Herzens –

LADY will an den Tisch, um zu klingeln, und ist dabei doch ergriffen. Ich – werde – die – Diener rufen –

MISS ELLEN hält sie zurück. Mylady – Vergebung! Ich verspreche, nur von dem Unglücklichen zu reden, der mitten aus einer Ruhmeslaufbahn gerissen werden soll und um Ihretwillen einem schmählichen Schicksal entgegengeht.

LADY. Die schreckliche Folge seiner Ehrbegierde, mit deren schauderhafter Konsequenz er sich eine Mutter aus den höchsten Ständen erobern wollte –

MISS ELLEN. Welch ein Glück für ihn, eine so vornehme und kalte Mutter zu haben –!

LADY. Das Todesurteil ist eine Formalität! Man wird ihn in die Südsee transportieren –

MISS ELLEN. Das eine Milderung? Statt durch einen einzigen fürchterlichen Augenblick ihn aus einem Leben voll Gram und Leiden zu entführen, schleppen sie ihn über unermeßliche Gewässer Tausende von Meilen weit nach den Wohnungen von Verbrechern hin, die mit vergiftetem Gewissen, stieren Augen ihn als der Ihrigen einen begrüßen werden, ihn, dessen engelreines Gemüt schon vor der Schilderung eines gemeinen Verbrechens schauderte! Sie, Sie, Mylady, können retten; flehen Sie die Königin an; ganz London erwartet von Ihnen diesen Schritt, der Ihnen die Achtung Englands wiedergeben wird!

LADY. Mischen Sie – in Ihre Begeisterung für einen jungen Dichter, der Ihnen so schöne Rollen schreibt und vielleicht selbst mit Ihnen einübt, keine Beleidigungen für mich –! Mir ist an der wankelmütigen Meinung Londons wenig gelegen. Jetzt ist es Mode, gegen mich Partei zu nehmen; ich kenne London genug, um zu wissen, wovon es abhinge, daß es für mich Partei nähme. Es ist ein so schöner Roman, den man erfunden hat, und der sich des Morgens bei der Toilette, wenn man seine Papilloten auswickelt, so empfindsam besprechen läßt! Lassen Sie bekannt werden, daß Richard Savage stottert, hinkt, buckelig ist oder sonst eine die Phantasie der Damen enttäuschende Beziehung[126] sich an ihn knüpft, so werden Sie erstaunen, wie die Wage seiner Popularität sinkt.

MISS ELLEN. Ein Glück, daß in seinem großen Herzen und seiner edeln Gestalt die zärtlichere Natur ihre Vorkehrungen getroffen hat, daß ihm solche Erfindungen nicht schaden können –

LADY. Ich will auch nur sagen, wie flüchtig das Interesse ist, das man diesem armseligen London einflößen kann. Hätte der unglückliche junge Mann durch seine Freveltat nicht Sorge getragen, daß man ihn immer im Munde führt, er würde längst vergessen sein.

MISS ELLEN. Man wird ihn nie vergessen! – – Aber was tu' ich? Ich reize Sie – – Nein, es kann Ihr Ernst nicht sein, ist es nicht; Sie werden die Königin bitten, gewiß, gewiß, Sie werden!

LADY. Ich werde nicht. Tät' ich's, so würde man dem albernen Märchen, daß es mein Sohn wäre, um so mehr Glauben schenken und mich dann erst recht verdammen, wenn ich ihn später doch nicht anerkennte.

MISS ELLEN. O, diese Berechnungen, Mylady –

LADY. Bin ich mir selbst schuldig und einer spätern, beruhigtern Zeit, die mich richten wird.

MISS ELLEN. Ich hör' es, Sie schwanken, Ihre Berechnungen verfangen sich, Sie können fürchten, für empfindungslos zu gelten – nun werden Sie es auch nicht sein wollen! Sie werden erschrecken vor dem schauderhaften Ruf einer Frau, daß man sagt: Sie hat kein Herz! Sie machten diesen toten Gedanken, diese Kälte, diese Härte schon zum Gegenstand Ihres Nachdenkens – was fehlt nun noch, Mylady, daß Sie die Türen Ihrer Herzenskammern aufreißen und den Frühling der Mutterliebe auf das Eis, das sich in ihm sammelte, mild schmelzende Küsse drücken lassen –

LADY. Sie irren sich –

MISS ELLEN. Wagen Sie es, wagen Sie es, gut und lieb zu sein! Ich weiß es ja, nur das Leben der höhern Gesellschaft, die Lüge konventioneller Formen, die Medisance der großen Welt hat Sie erkältet, hat Ihnen den Mut genommen, wahr und gefühlvoll zu sein, hat Ihrem Willen diese kalten Entschlüsse, Ihrem Denken diese schroffen Absprünge, Ihrer Empfindung diese ungeheure Selbstbeherrschung gegeben – aber können Sie sich darin glücklich fühlen? Kann Sie der Ruhm, eine Königin des Hasses zu sein, stolzer machen als der, eine Sklavin der Liebe genannt zu werden? O gewiß, gewiß; wenn es Ihr Sohn ist, gebührt der Mutter die Liebe; wenn er es [127] nicht ist, gebührt dem Weibe, da er Sie dafür hält, das Mitleid!

LADY streng und sich in ihrem Zimmer wendend. Ich habe genug gesagt, und ich dächte, Sie auch –

MISS ELLEN. Nicht genug, wenn Ihr Herz nicht erweicht ist. Noch hoff' ich – Sie schwanken – Sie ringen mit Ihrer kalten, kalten Philosophie, mit den Verhältnissen, mit der Etikette – ja auch dies – ja mit Ihrem Stolz – man hat Sie gekränkt, verspottet, verfolgt Sie, o das ist schlecht! – Aber Sie werden siegen, durch Ihre Großmut siegen, durch Ihre Vergebung; gewiß, Sie gehen zum Hof, Sie schreiben, Sie bitten um Gnade für Richard –

LADY. Ich bewundere Ihre Beredsamkeit, aber ich – – bedaure, ihr widerstehen zu müssen. Ab.

MISS ELLEN ihr nachblickend. Sie läßt mich allein? Sie bleibt kalt? – stumm? – grausam?! Nach einigem Bedenken, fest. Nun denn, so geh' ich selbst zur Königin! Ab.


Quelle:
Gutzkows Werke. Auswahl in zwölf Teilen. Band 1, Berlin, Leipzig, Wien, Stuttgart [1912], S. 124-128.
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