Neuntes Capitel
Die Stimmschraube

[2553] In der Zeck'schen Schmiede standen schon am frühen Morgen drei Arbeiter beschäftigt.

Der junge Zeck und die beiden neuen Gesellen, die jedoch, da sie den gehegten Erwartungen nicht entsprachen, hier heute zum letzten Male arbeiteten ...

Es waren in der That zwei alte Bursche, von denen man nur der Blindheit des alten Zeck und seiner überhäuften Arbeiten wegen begreifen konnte, wie er sie in seine Werkstatt hatte aufnehmen können. Ohne Zweifel trieb ihn nur eine rastlose Gewinnsucht, die ihn wiederum nicht für ihn selbst, sondern für das künftige Schicksal seines beschränkten, unanstelligen Sohnes zur Thätigkeit spornte. Er machte sich anheischig, Ackermann auch Schlosser- und Klempnerarbeiten zu liefern und würde, wenn er die Kräfte hätte auftreiben können, sich zu allen Geschäften, die nur mit dem Feuer zusammenhingen, erboten haben. Es war eine Gier nach Besitz in ihm, die den Alten gefährlich erscheinen ließ.

Die beiden fahrenden Arbeiter hatten bei ihm vorgesprochen[2553] und erhielten für Ackermann's amerikanische Mühle genug zu hämmern und zu feilen. Aber gleich nach dem ersten Tage merkte Zeck, daß ihnen die Arbeit nicht flink von der Hand ging und daß sie lieber plauderten, aßen, tranken und recht im Wandern und Fechten steifgewordene Vagabunden waren. Er hatte mit Dem, was sie fertigten, bei Ackermann wenig Ehre eingelegt und von diesem sich müssen sagen lassen:

Alter, ich lobe Euern Eifer zum Arbeiten und Geldverdienen, allein ich kann Euch die unangenehme Erklärung nicht ersparen, daß mit dem Monat März, wenn nur erst die Lüfte ein wenig milder werden, allerhand neue Schmiede, neue Schlosser und Spengler hier eintreffen werden, die ich mir, natürlich auf einige Wochen nur, verschrieben habe. Der erste Grundsatz eines Geschäftsmannes muß sein, sich nicht aus Rücksicht auf Diesen oder Jenen, den man zu kränken sich fürchtet, mangelhafter Arbeit auszusetzen.

Ach, Herr, hatte Zeck darauf kurz und gefaßt erwidert, ich bin ja blind! Aber wenn Sie Pferde kaufen ...

So versprech' ich Euch, Zeck, daß Niemand anders an ihren Huf kommt als Ihr oder Euer Sohn.

Mit diesem Troste aufrecht erhalten, aber doch innigst ergrimmt, hatte Zeck den beiden Arbeitern erklärt, daß er zwei so alte faule Schlingel nicht länger beschäftigen könne ...

Der Schlosser raspelte an einigen alten Krammen, die kleiner werden sollten. Der Klempner nietete einige[2554] Blechstücke zu einem kleinen Dache zusammen. Der junge Zeck schmiedete Hufeisen und kehrte den beiden Andern, die er ohnehin nicht hören konnte, oft den Rücken.

Der Schlosser sagte zum Spengler, dem er heimlich aus einer Flasche zu trinken gab:

Gott sei Dank! heut' Abend haben die Narrenspossen ein Ende –

Mich bringt Keiner mehr zu so einer Commission -erwiderte der Andre und trank ...

Ich habe immer gedacht, fuhr der Schlosser fort, Handwerk hat einen goldnen Boden. Aber meiner ist eingeschlagen. Ich könnte keinen Schlüssel mehr zu Stande bringen.

Das ist gut für Ihre Ehrlichkeit!

Der junge Zeck merkte, daß beide Arbeiter die Lippen bewegten und roch wol auch den Duft des Getränks ...

Faullenzer! unterbrach er sie. Denkt Ihr, daß Ihr heute nichts mehr zu schaffen braucht, weil's Gott sei Dank der letzte Tag ist? Nicht einen Groschen zahlt Euch der Alte aus, ihr Taugenichtse!

Schöne Complimente! bemerkte der Klempner.

Manchmal, sagte der Schlosser und raspelte, hab' ich doch schon gedacht: Du nimmst einen Hammer und klopfst Dem oder dem Alten ein bischen auf den Schädel. Verloren wäre doch nichts an ihnen.

Man muß es tragen, weil's Dienstsache ist –

Ja, wären die Diäten nicht ...[2555]

In diesem Augenblick kam der alte Zeck die Stiege herunter. Er blieb ohne fehlzutreten eine Weile an der untersten Stufe stehen, als wollt' er sich erst in der Werkstatt zurechtfinden und hören, ob Jeder an seiner Arbeit wäre. Dann ging er an den Blasebalg und schürte das Feuer, das ihm matt vorzukommen schien.

Die Müllerin ist gestorben, sagte er vor sich hin. Gott hab' sie selig ...

Seinem Sohne diese Nachricht mitzutheilen, war im Lärm des Klopfens, Feilens und beim Brausen des Blasebalgs nicht möglich ...

Um zehn Uhr auf's Schloß! sagte er wieder nach einer Weile vor sich hin.

Was brummt der Alte? flüsterte der Spengler.

Er sagte etwas vom Schloß – meinte der Andre.

Anneliese! schrie der Alte plötzlich wie mit einer Stierstimme, daß die beiden Arbeiter, die etwas schwachnervig waren, zusammenschraken. Besonders bekam der Spengler das Zittern ...

Anneliese! wiederholte der Blinde.

Nach einer Weile kam die alte Magd halb auf die Stiege herab und kreischte:

Meister!

Um zehn Uhr? fragte der Blinde.

Um zehn! bestätigte Anneliese und wiederholte die Erzählung der Einladung und Bestellung noch einmal.

Die beiden Arbeiter horchten auf. Der Blinde merkte Das am Ruhen ihrer Instrumente.[2556]

Nun, schrie er sie an, schlafen Euch die Arme ein?

Scheert Euch zum Teufel, antwortete der Schlosser; Ihr seid ein Grobian! Und wenn Ihr uns in Gold auszahltet, bei Euch bliebe kein ehrlicher Arbeiter.

Die Worte: Ehrlicher Arbeiter und in Gold auszahlen machten einen eignen Eindruck auf den Blinden. Sonst schon hatte er bei solchen Zänkereien gesucht, den beiden Arbeitern nahezukommen und sie mit dem Schürhaken, den er mechanisch rasch zu ergreifen wußte, niederzuschlagen. Es war ein ängstlicher Anblick gewesen, wenn der wilde Blinde wuthschäumend herumtastete und die Andern vor ihm flohen. Heute aber machte ihn das Wort vom In – Goldauszahlen stutzig. Er wetterte nur mit Schimpfreden, die von der zänkischen Anneliese unterstützt wurden, bis ihr der Blinde andeutete, sie sollte nun auch an die Arbeit gehen.

Eine Zeitlang ging es in der Schmiede zwar geräuschvoll genug, aber still in der Unterhaltung so fort.

Um acht Uhr sprach ein Jäger mit Pfeife und Büchse auf dem Rücken vor. Es war Heunisch, der den alten Zeck um einen Karren bat, um Fränzchens Sachen nach dem Ullagrund zu fahren. Er verlangte auch, daß der junge Zeck den Karren ziehen sollte.

Das hatte beim Alten durchaus keinen Anstand; doch mußte ihm Heunisch erst erzählen, wie diese Änderung so rasch gekommen war.

Während Der das umständlich und in seiner Weise vortrug, machten sich die Arbeiter einige Male bedeutende[2557] Gebehrden, sodaß Heunisch, der sie misverstand, nachdrücklich seine Erzählung damit schloß:

Natürlich geh' ich mit dem Jungen mit und stopfe nicht blos meine Pfeife dabei, sondern auch meine Büchse. Es soll jetzt Gaunervolk hier herum lungern.

Der Schlosser lachte vor sich hin.

Warum lacht Er? fragte Heunisch. Ich rathe Ihm nicht zu lachen, wenn ich Ihm morgen noch im Walde begegnen sollte!

Der Blinde nahm den aufgeregten Jäger und ging mit ihm vor die Thür der Schmiede.

Wie gesagt, meinte jetzt der Schlosser wieder, wenn die Diäten nicht wären –

Ich muß sagen, fiel der Andre ein und wischte sich den Schweiß von der Stirn, eine solche Commission übernehm' ich nicht wieder – eine Kugel in den Leib macht allen Diäten ein Ende!

Der grimmige Kerl könnte uns den Spaß versalzen. Vom Forsthause können wir nicht ein Wort berichten. Vorgestern Abend, den Versuch werd' ich mein Lebtag nicht vergessen. Ich wünschte nur, ich hätte die bleierne Pille, die der Kerl mir zu kosten geben wollte, aus dem Eichbaum, in den sie fuhr, mitnehmen können. Die sollten sie mir zu Hause schon versilbern!

Wenn der Jäger heut' Nachmittag fort ist, bemerkte der Spengler, und wir um Mittag aus unserm Dienst treten und doch noch einen Versuch machten, in's Forsthaus zu kommen ...[2558]

Wir müssen Pfannenstiel fragen, sagte der Schlosser und winkte zum Schweigen; denn der alte Zeck kam zurück und zwar allein.

Bis gegen neun Uhr wurde so fortgearbeitet ...

Der Spengler hatte da den Muth, den Blinden zu fragen:

Wißt Ihr denn, Meister, was es auf dem Schlosse zu arbeiten gibt?

Das geht Euch nichts an!

Vielleicht ist's Schlosserarbeit, meinte der Andre, der vorhin verrathen hatte, daß er mit dem Gerichtsdiener Pfannenstiel vertraut war.

Der Blinde wußte schon, daß das Anfertigen einer Stimmschraube für ein Fortepiano von ihm verlangt wurde und sprach darüber lauernd und listig, um sich Raths zu holen.

Als der Schlosser sich auf einen solchen Drücker, wie er's nannte, besonnen hatte, fragte der Spengler:

Spielt der Alte mit der schwarzen Binde auf dem Clavier oder der Franzose?

Mit der schwarzen Binde? wiederholte Zeck. Welcher Alte? Wer? Schwarze Binde? Wer ist da blind?

Der mit dem Franzosen hier angekommen und oben logirt. Er heißt, wie heißt er doch?

Der Schlosser sagte:

Es ist ein Engländer, Namens Murray, blind ist er nicht, aber fühlt ihm auf den Zahn, Meister! Der hat den Teufel im Leibe und seine Augen scheinen mir gesünder als die Eurigen.[2559]

Woher kennt Ihr denn die Leute, die da oben wohnen?

Man kommt in der Welt herum! sagte der Spengler.

Der Blinde forschte nicht weiter. Er riß nur die Augen groß auf, als wollte er um jeden Preis sehen. Es kam ihm vor, als hätte in diesen Äußerungen seiner Gesellen ein Ton gelegen, der ihm befremdlich vorkommen sollte. Nach einer Weile wiederholte er:

Ihr seid in der Welt herumgekommen? Warum trägt der denn oben eine schwarze Binde?

Was wissen wir's? Fragt ihn! meinte der Spengler. Aber der könnte Euch ja wiederfragen: Warum seid Ihr denn blind, Meister?

Lumpenvolk! schrie Zeck jetzt zornig und hob die Schürstange, daß jene bei Seite sprangen. Warum ich blind bin? Weil Ihr's nicht seid! Ihr Faullenzer! Habt Ihr je einmal im Leben einen Zoll tiefer in's Feuer gesehen, als Ihr solltet? Euch haben die Funken wenig um die Nase getanzt, Ihr Landstreicher Ihr! Weil ich fleißig war, bin ich blind.

Der junge Zeck lachte über die furchtsame Art, wie die Gesellen retirirten und fast rücklings über altes Eisen fielen.

Indem rief aber eine Stimme an der Thür:

Hoho! Meister! Seid Ihr auf der Jagd? Wollt Ihr wol Ruhe geben!

Es war Pfannenstiel, der vom alten Zeck immer mit einer Art Beklommenheit empfangen und begrüßt wurde.

Guten Morgen, Herr Amtsvoigt! sagte der Blinde,[2560] der die Stimme sogleich erkannte. Die Hallunken gehen heute, sonst erlebt' ich vor Ärger nicht die nächste Lichtmeß und Lichtmeß ist mein Geburtstag.

Kommt Ihr einmal heraus, rief Pfannenstiel den Arbeitern, ich hab' Euch etwas zu berichten.

Damit ließen die Arbeiter Alles liegen und gingen vor die Schmiede zu dem Amtsvoigt.

Zeck sah das Alles im Geiste vor sich und war nicht wenig erstaunt darüber. Jetzt hätt' er seinem Sohne mögen in's Ohr schreien: Was ist Das? Was geschieht da? Was kann ich Alles nicht sehen? Und er sah wiederum doch deutlich vor sich, wie dieser dumm zuglotzte und immer auf sein Hufeisen zuschlug. Eine unbeschreibliche Ungeduld faßte den Blinden. Er folgte Pfannenstiel und hörte, daß dieser immer weiter abseits mit den Arbeitern trat, sodaß er voller Zorn und Ärger ihnen nachrief:

Gott verdamm' mich! Ich zahle keinen Groschen Lohn, wenn bis heute Mittag nicht die Krammen fertig sind und das Dach. Schlag' das Wetter drein, Herr Amtsvoigt, haltet mir das Volk nicht noch vom Arbeiten ab!

Die beiden Arbeiter kehrten zurück. Pfannenstiel entfernte sich, ohne ein Wort zu sagen ...

Diese Stille, dies Schweigen hatte für den Blinden etwas furchtbar Peinliches. Er rannte umher wie ein taumelnder Stier. Er verlor selbst die Kenntniß des Ortes, in dem er sich befand. Der Sohn, bei alledem halb lachend, weil sich der Alte stieß, mußte ihn zurechtführen und ihn dadurch zur Besinnung bringen, daß er ihm den Strick des[2561] Blasebalgs in die Hand drückte. Erst diesen anziehend, fand sich der Blinde zurecht und dachte den fremden und räthselhaften Eindrücken nach, die ihn umgaben. Seit Jahren war er gewöhnt, alles Fremde von sich fern zu halten. Nichts durfte in seiner Nähe festen Fuß fassen, Keiner mit den Dingen, die ihn betrafen, vertraut werden. Anfangs hatte er alle Monate eine neue Magd, erst später behielt er die Anneliese auf Empfehlung, ja dringendes Verlangen seiner Schwester Ursula, die die Veranlassung gewesen war, daß er in Plessen wohnte. Sie hatte ihn mit in das Forsthaus gebracht und dann, als seine Unruhe, sein Arbeitseifer sich nicht dort zurechtfanden, nach Marzahn's Tode von der Fürstin Amanda die Mittel und Erlaubniß erhalten für die Schmiede, die Zeck anlegte. Seit Jahren hatte er emsig nach Kräften seinen Pflichten obgelegen und den einen Gedanken als sein Lebensziel verfolgt, seinem Jungen Geld, Geld, baares Geld zu hinterlassen, und seit dem Tage, daß ihm von Ackermann im Auftrag eines Verwandten, Namens Morton, nun viel Geld gebracht wurde, hatte er keine Ruhe mehr. Er schlief schlechter. Er war von Träumen gequält, er sprach vom Sterben und ging doch nicht mehr wie sonst, unter der Fürstin Amanda, in die Kirche. An seiner Schwester Ursula hatte er vollends keinen Halt mehr. Seit einiger Zeit war diese sonst so verschmitzte und scharfdenkende Schwester schwachsinnig geworden. Sein Mistrauen kannte keine Grenzen. Es ging so weit, daß er oft Tage lang glaubte, nicht allein zu sein, sondern belauscht,[2562] beobachtet zu werden. So fern ihm der Gedanke lag, in Murray seinen wiedergekehrten, ohnehin todtgeglaubten Bruder zu vermuthen, so beunruhigten ihn doch schon die wenigen Worte, die seine verdächtigen Gesellen von jenem Fremden auf dem Schlosse gesprochen hatten. Am liebsten hatte er, wenn Alles um ihn her lustig, lärmend war. Sonntags ging er auf die Kegelbahn, in die Schenke, hörte Tanzmusik und freute sich des Wirrwarrs, Lärmens und Jubelns. Er machte nichts davon mit, seit Jahren nicht, litt auch nicht, daß sein Sohn von seiner Seite wich. Er wußte, daß Der zu alle Dem, was Andern gut stand, unanstellig war. Aber das Lärmen und Toben, das laute Lachen und Singen übertäubte, ergötzte ihn. Er wußte dann, daß er unter Menschen war, die nicht lauerten und von seiner Blindheit keine Vortheile zogen.

Gepeinigt von dem Schweigen seiner Gesellen, wie vorhin von ihrem Reden, hörte er endlich, daß die zehnte Stunde nahe war. Anneliese deutete es ihm durch ein Frühstück an, zu dem er wenig Appetit verspürte. Dennoch stärkte er sich wider Willen. Schon die Hast, etwas zu greifen, etwas Äußerliches sein zu nennen, that ihm wohl. Das gierige Schlingen seines Sohnes war ihm tröstlich. Er sollte ihn begleiten. Sie nahmen leichte Handwerkszeuge und machten sich auf den Weg.

Das Wetter war rauh und kalt. In der vergangenen Nacht hatte es schon gefroren. Der Weg zum Schlosse hinauf war jetzt so hart, wie noch vor Kurzem schlüpfrig und glatt. Oben schon kam Brigitte und sprach von der[2563] Abreise des lieben Herrn, der die Nacht da geschlafen hätte und von der großen Freundschaft der beiden jungen Männer für einander, was ihr völlig unwahrscheinlich mache, daß Herr Louis nichts als ein simpler Tischlergesell wäre. Auch Herr Oleander wäre schon oben gewesen und hätte dem feinen Herrn Abschied gesagt und ihn tausendmal gebeten, bald wieder zu kommen.

Zeck nahm das Alles mit dem Lachen auf, das sich in den Mienen, wenn sie neugierig sind, festsetzt, ohne daß das innere Herz an Lachen denkt. Der Junge führte ihn. Doch war es nicht nöthig, der Blinde fand sich im Schlosse so sicher zurecht wie in seiner Schmiede. Hatte er doch allen Abendconventikeln der Fürstin beigewohnt! Kannte er doch das große Zimmer, wo das Pianoforte stand, wo man Gesangbuchverse sang, ein Gebet hörte und zuletzt Warmbier, oft sogar noch wollene Winterstrümpfe bekam!

Auf dem Corridor trat ihnen aber Louis Armand entgegen. Der Blinde kannte die Stimme des jungen Mannes von der amerikanischen Mühle her.

Nun, sagte Louis, jetzt sollt Ihr einmal etwas Feineres zu schmieden bekommen! Falls es Euch möglich ist, auch an solche Arbeiten zu gehen. Aber Ihr seid geschickt. Man weiß es. Kommt!

Vater und Sohn wollten vorschreiten. Da hielt Louis, mit rascher Wendung, den Jüngsten zurück mit den Worten:

Aber, mein Bester, schämt Ihr Euch nicht? Putzt man[2564] sich die Stiefeln so schlecht, wenn es friert? Das geht nicht! Bleibt draußen! Wir wollen uns dem Vater schon verständlich machen.

Der Alte zankte über die Unsauberkeit des Sohnes und gab ihm einen tüchtigen Tritt in die Seite, auf die Stiefeln zeigend, an denen der gestrige Koth festgetrocknet war.

Der Junge glotzte verdutzt auf seine Füße und verstand erst durch die handgreifliche Sprache des Vaters, was an ihm getadelt wurde. Der Ullagrunder Lehm lag fingerdick auf diesen Stiefeln und gab ihnen eine Kruste, die die Wärmehaltigkeit des Leders noch unterstützte.

Der Junge blieb im Corridor. Louis führte den Alten erst durch sein Schlafzimmer und dann in das Eckzimmer, wo Murray in ziemlicher Entfernung von dem Instrumente an einem Fenster saß.

Louis pochte das Herz. Er konnte sich die Empfindung seines Gefährten denken, wie er den blinden Bruder, den er nach seinem Sohne fragen wollte, eintreten sah. Sie hatten sich verabredet, zu thun, als wenn Murray nicht zugegen war. Ein Blick auf Murray überzeugte ihn, wie tief auch er es empfand, den Bruder wiederzusehen, der durch ihn das Augenlicht verlor.

Seht, sagte Louis – doch, was red' ich – ich sage: Seht! Ihr bewegt Euch so sicher, Meister, daß man versucht wird, Euch für keinen Blinden zu halten.

Zeck erwiederte darauf nichts.

Da er sich denken konnte, daß er am Klavier stand, faßte er es an.[2565]

Hier, sagte Louis, dächt' ich, um die Saiten anziehen zu können – Ihr kennt doch so einen Kasten, der Musik macht?

Zeck nickte.

Diese eisernen Stäbe, fühlt Ihr sie –

Zeck nickte wieder.

Diese kleinen eisernen Stäbe halten die Saiten, die man schärfer anziehen muß, wenn sie nachlassen. Um aber die Stäbe rundumzubekommen, muß man einen Schraubstock haben mit einem Griff und einer Höhlung, die hinlänglich lang ist, um die Stäbe fassen zu können ... versteht Ihr?

Ganz wohl!

Könnt Ihr so ein Eisen schmieden?

Gebt mir nur die Weite, Herr! Die Weite der Stäbe!

Das ist sie! Grade wie dieser Faden! Eine solche Öffnung! Und so lang, wie etwa ein halbes Fingerglied muß die Weite sein.

Gut, gut –

Wann haben wir das Eisen?

Bis heute Abend! Ich will gleich dran gehen –

Damit wollte sich Zeck zur Thür wenden ...

Wie Bescheid Ihr wisset! War't Ihr schon öfters in diesem Zimmer? begann jetzt Louis, ihn aufhaltend –

Herr! Da ist der Ofen! Nicht wahr? lachte Zeck.

Ganz recht –

Da steht ein Kanapè –

Ganz recht –

Da saß die Fürstin – –[2566]

Der Lehnsessel steht noch da –

Da ist ein Fenster in den Hof, dort zwei in den Garten –

Als wenn Ihr durch sie sehen könntet, so trefft Ihr's –

Da saß Herr Stromer – hier standen und saßen wir ...

Wer?

Die geladen waren – zum Beten – hier wurde gesungen und gebetet, Herr!

Und Ihr kam't gerne dazu?

Da am Fenster war immer mein Stand ... dort ... ich kann noch den Stuhl zeigen –

Damit schritt der Blinde geradezu gegen das Fenster, wo auf dem Stuhle, den er, der Frage nach dem Beten ausweichend, zeigen wollte, Murray saß.

Oho! rief Zeck. Da steht ein Tisch, der stand sonst nicht hier.

Er war auf den Tisch gestoßen, an dem Murray arbeitete. Aber Murray, der sich geschützt glaubte, erschrak nicht wenig, als sein Bruder dabei auf die Kupferplatte stieß, an der er geätzt hatte. Der Blinde fuhr über das Metall hinweg und sagte erschreckend:

In der Mühle, Herr, erzähltet Ihr von einem Kupferstecher! Ist das der Tisch des Kupferstechers? Ich fühlte eine Platte –

Louis besann sich auf Das, was er von seinem Begleiter in der amerikanischen Mühle gesagt hatte.

Eine Liebhaberei meines Freundes, erklärte er, der dort am Fenster sitzt und das Schicksal Eures Sohnes theilt, etwas schwer zu hören.[2567]

Zeck starrte nach dem Fenster. Der Gedanke, nicht allein mit Louis zu sein, war ihm peinlich. Er suchte wieder die Thür ...

Setzt Euch doch ein wenig, Meister! sagte Louis. Ich bin ein Abgesandter Sr. Durchlaucht. Ich soll hier nach dem Wohl und Wehe aller Menschen fragen. Geht es Euch gut?

Zeck sah nur nach der Kupferplatte ...

Versteht Ihr Etwas von der Kunst in Kupfer zu stechen?

Zeck richtete die Augen auf Louis und setzte sich mechanisch in den Sessel, den ihm Louis hinrückte ...

Mein Freund da hat sich die Augen verdorben beim Ätzen einer Platte. Es ist ihm gegangen wie wol Euch, als Ihr blind wurdet. Wovon kam Das?

Vom Feuer, Herr! Ein Eisen, dem Auge zu nahe gebracht –

In der Schmiede habt Ihr Euch verglüht –

In der Schmiede.

Diese Unterredung machte Zeck allmälig sichrer. Über die ersten Wendungen war er nicht wenig erschrocken gewesen ...

Wie lange lebt Ihr schon in Plessen, Meister? fragte Louis im vertraulichsten Tone.

Sechzehn Jahre, Herr!

Immer glücklich, immer zufrieden?

Bis auf die Augen, Herr!

Es gaben diese Worte einen tiefen Schmerz in Murray's[2568] Innere. Er mußte zum Fenster blicken, um seiner Bewegung Herr zu werden.

Und den tauben Sohn! sagte Louis. Habt Ihr nur den einen Sohn?

Nur einen, Herr.

Er muß dreißig Jahre sein – es ist ein alter Knabe –

Zwei und dreißig –

Habt Ihr immer in Plessen gelebt?

Vordem ein fünf Jahre im Jägerhause –

Bei Eurer Schwester?

Kennt Ihr Die, Herr?

Ursula Marzahn! Ich kenne eine Nichte des Försters Heunisch –

Zeck nickte und wiederholte:

Ursula Marzahn ist meine Schwester.

Wie kann man's aber fünf Jahre in dem Walde aushalten, wenn man ein Schmied ist?

Ich war blind.

War't Ihr denn schon blind, als Ihr in das Jägerhaus kamt?

An beiden Augen.

Da hattet Ihr schon früher eine Schmiede und war't Gesell und früh verheirathet – schon vor drei und dreißig Jahren – ich rechne Das an Eurem Sohne –

Ich bin vierzig Jahre Meister –

Und seid einige Sechzig alt –

Mein Kopf muß weiß sein!

Schneeweiß, wie's eben dort im Gebirge wird. Es[2569] schneit – sieh, sieh, es schneit!

Zeck wollte nun gehen. Er hatte in den fernern Nachfragen kein Arg gefunden.

Bleibt doch! Ich wollte Euch noch etwas fragen, Meister.

Zeck horchte auf ...

Ihr hattet einen jüngern Bruder ...

Zeck blieb bei dieser Frage zwar ohne sichtliche Verlegenheit, hielt sich aber doch starr und regungslos.

Er war Kupferstecher, wie der Mann da, der nicht gut hören kann –

Zeck antwortete wieder nicht.

Er wanderte nach Amerika aus – weil er mußte! Mußte! Nicht wahr, Zeck?

Zeck blieb starr und sprach jetzt noch weniger eine Sylbe.

Er ist todt. Herr Ackermann ... brachte Euch von ihm, als einem Verwandten, eine Erbschaft. Wie ist's denn mit dem Sohne, den Euch der Bruder zurückließ, als er nach Amerika mußte?

Zeck kniff die Stirnfalten zusammen und meinte forschend und stotternd:

Kommt Das von Herrn Ackermann?

Von wem es kommt, ist gleichgültig, alter Freund! Wie ist es mit dem Sohne Eures Bruders?

Im ersten Augenblick hatte sich auf dem Antlitz des blinden Schmieds Schrecken widergespiegelt. Bald aber hellte es sich auf. Ein habsüchtiger Gedanke schoß durch[2570] die Seele des Geängsteten. Er stellte sich vor, daß sein Bruder Schätze hinterlassen, die er seinem Sohn bestimmt hätte, Schätze, die ihm und seiner erbenlosen Schwester anheimfallen würden, wenn Murray's Sohn nicht mehr nachzuweisen wäre. Ehe dieser Gedanke ganz in ihm zurechtgelegt war, hatte ihn Louis wol schon dreimal nach dem Sohne seines Bruders gefragt.

Ungeduldig wiederholte Louis noch einmal:

Wo ist der Sohn Eures Bruders?

Todt! sagte jetzt der Schmied mit großer Bestimmtheit.

Für Murray, der gespannt am Fenster horchte, kam dies Wort nicht unerwartet. Es erschütterte ihn auch nicht zu heftig, aber unwillkürlich mußte er doch ein Geräusch mit dem Stuhle machen, auf dem er saß, und Zeck's Aufmerksamkeit auf sich ziehen.

Der Knabe ist todt! fuhr Louis fort. Da er Eurer Pflege anvertraut war, werdet Ihr Beweise für seinen Tod beizubringen haben.

Nicht meiner Pflege, Herr – ich nicht – ich nicht –

Eure Schwester! Ihr wurde das Kind anvertraut, Euch Beiden gemeinschaftlich –

Woher wissen Sie Das?

Ihr wohntet damals an einem Orte, den die Menschen fliehen ... nicht wahr Zeck?

In der größten Unruhe suchte sich der Blinde aufstehend von dieser Prüfung loszuwinden, aber der zur Gewißheit bei ihm gewordene Gedanke, daß die für seinen Brudersohn bestimmten Schätze ihm, seinem eigenen[2571] Sohne, anheimfallen sollten, reizte ihn doch, zu bleiben. Er half sich durch eine wiederholte Berufung auf seine Blindheit.

Ihr war't blind, Zeck, ich weiß es – Ihr war't beim Doktor Lehmann, daß er Euch heilen sollte –

Das war ich. Ja, Herr –

Und Eure Schwester verbarg Euch ...

Was sagten Sie?

Vor dem Licht des Tages, das Euch wehe that, verbarg sie Euch. Geblendete Augen verlangen eine dunkle Umgebung –

Das ist's.

Aber das Kind, das Ihr von einer Dame, die ich nicht kenne, als das Eurige anvertraut erhieltet, mit dreitausend Thalern ...

Der Blinde wurde immer unruhiger.

Nicht wahr? Mit dreitausend Thalern?

Zeck antwortete nicht, sondern sah nur starr auf Louis und die Gegend an dem Fenster, wo ein ihm unbekannter Kupferstecher zuhörte.

Ist er wirklich todt, der Sohn Eures Bruders, der sich einige Jahre hindurch Baron Grimm nannte?

Bei Erwähnung dieses Namens schwanden dem Blinden alle Kräfte. Er suchte seinen Sessel.

Louis schob ihm seinen Sessel hin. Er mußte ihm Zeit lassen sich zu sammeln.

Endlich besann sich der Schmied auf eine Auskunft, die er in diesen Worten zusammenfaßte:[2572]

Herr – ich sollt' Euch eine Schraube machen, um die Saiten da anzuziehen – Ihr seid aber selbst wie so ein Ding und schraubt Einen, daß die Finger knacken. Wenn Euch Herr Ackermann oder wer sonst aufgetragen hat, das Erbtheil von meinem verstorbenen Bruder an seinen Jungen auszuzahlen, so sag' ich Euch: Der ist todt wie sein Vater und das Erbtheil muß nun von Rechtswegen ...

Und die Beweise, die Papiere über jenen Tod?

Zeck besann sich auf den Ausweg, den er schon einmal einschlagen wollte:

Fragt die Ursula! Sie hat alle Papiere.

Gut, sagte Louis, ich sehe, daß Ihr nicht wißt, wie und wo das Euch anvertraute Kind gestorben ist. Ihr seid und war't ein Blinder, schon damals, als das Kind geboren wurde. Ihr habt es nie gesehen. Wohlan, laßt Eure Schwester reden. Heute Nachmittag ist sie im Forsthause allein. Ich werde Euch zu ihr führen ...

Mein Sohn, Herr, führt mich.

Euer Sohn führt Euch! Wohlan, dann können wir zu gleichen Paaren sein. Da mein Freund, der nicht hört, wie Euer Sohn, er soll mich begleiten. Wir steigen in die Kammer der Ursula oder rufen sie herunter und ich denke, Ihr, Zeck, werdet es verstehen, ihr Gedächtniß ein wenig zu kitzeln. Ich höre, daß sie gegen andre Hände unempfindlich ist. Seid Ihr's zufrieden?

Zeck sagte, daß sein Sohn den Förster mit dem Karren zu begleiten hätte, der Franziska's Sachen in den Ullagrund bringen sollte.[2573]

Nun so hol' ich Euch an der Schmiede allein ab ... Ihr werdet Euch doch von mir führen lassen?

Um zwei? Dann kann ich die Schraube nicht fertig liefern zum Abend ...

Die eilt nicht, Zeck! Mich aber eilt's mit dieser Sache. Heut' Nachmittag! Jetzt kommt, ich führe Euch hinaus zu Eurem Sohne. Er muß mit dem Förster in den Ullagrund, damit wir die Ursula allein treffen.

Zeck bot zögernd die Hand, die rauh wie Leder war und schwarz gefärbt. An der Thür hielt er noch einmal inne und fragte mit verschmitzter Neugier:

Herr, darf man fragen, ist es was Ordentliches, was unser Friedrich hinterlassen?

Ihr meint, weil Ihr Euch für Euren Sohn darauf freut ...

Ach!

Sagt's nur heraus!

Ein blinder Vater – ein tauber Sohn – die haben mehr Noth, ehrlich durchzukommen, als Leute, die sehen und hören können –

Das ist wahr! sagte Louis, beruhigt Euch, Zeck, das Erbrecht wird seinen vollkommenen Fortgang haben.

Indem horchte Zeck auf, als er eben aus der Thür treten wollte.

Was horcht Ihr so?

Reiten da nicht welche unten über die Landstraße?

Könnt Ihr so gut hören?

Ich höre, daß Eisen dabei klappert –[2574]

Losgegangne Hufeisen – Ihr werdet zu thun bekommen.

Das ist Säbelklappern –

Louis sah zum Fenster hinüber und bemerkte, unten auf der Landstraße um den Berg herum schwenkten zwei scharfzutrabende militairische Reiter.

Es sind zwei Landdragoner! sagte er. In der Hauptstadt war es unruhig ...

Ich hört' es gleich –

Scharfes Ohr! Ihr könnt dem Himmel danken, daß er gleich wiedergibt, wenn er genommen hat. Um zwei Uhr ...

Zeck nickte und ergriff die Hand seines Sohnes, bis zu dem sie auf dem Corridor angekommen waren. Der starrte den Landdragonern nach, die in das Amtshaus ritten, nahm dann seinen Vater und führte ihn die große breite Stiege hinunter ...

Louis, zurückkehrend, fand Murray sehr erschüttert.

Über die erste Rührung, den durch ihn geblendeten Bruder zu sehen, sollte er doch wol bald hinwegkommen, da er die eingewurzelte Bosheit erkannte. Doch sagte er, alle Reue hülfe dem Frevelnden nichts, seine böse That behielte ihre Folgen und nur der Tugendhafte wäre sicher, höchstens mittelbar Schlimmes zu veranlassen. Denn schlimm sind wir Alle! Wer weiß, fuhr er fort, was ich Alles in Folge meines damaligen Fehltrittes noch anrichte, als willenlose Ursache! Nehmt den Tod meines Kindes. Bin ich nicht sein Mörder? Diese Gedankenreihe[2575] erschütterte ihn mehr als das wirkliche Nichtmehrvorhandensein des Kindes. Denn ein Wesen, das er nie gesehen, dessen Ursprung sich auf Sünde und Reue zurückzog, ein Wesen, dessen Schicksale ihm nur, wenn es erwachsen und misrathen war, Gewissensbisse verursachten, konnte sich seinem Herzen doch nicht so tief als eine Nothwendigkeit eingepflanzt haben. Im Gegentheil durfte er freier athmen und Gott danken, daß er ihm eine Veranlassung zu neuer großer Schuld früh hinweggenommen hatte. Was aber Murray ebenso erschütterte, war der unverkennbar böse Sinn des Bruders, die ungebesserte Lüge, die Verstocktheit, die Geldgier. Und auch für diese mußte sich Murray nach seinem Sinn verantwortlich machen.

Ach, sagte er zu Louis, konnte ich bittrer gestraft werden als durch den Anblick eines Menschen, der durch mich das Licht der Augen verlor! Wäre dieser Elende – denn ich kann ihn in nichts beschönigen – wär' er sehend geblieben, so hätte ihn die Kraft seiner Sinne wol seinen eigenen Weg geführt. Er hätte nicht nöthig gehabt, Andre für sich denken, Andre ihn führen zu lassen! Was konnte da noch aus ihm Gutes werden, wo er nun genöthigt war, meiner Schwester zu folgen und ihr eine Last wurde! Sie stieß ihn aus dem Försterhause, gab ihm vielleicht von ihrem Pflegegeld so viel, um sich die Schmiede anzulegen mit seinem damals schon erwachsenen Sohn. Wer nicht sieht, ist mistrauisch. Der Verlust keines Sinnes macht so bitter wie der Verlust des Auges. Man findet wol Blinde,[2576] die heiter und getröstet sind über die ewige Nacht, die sie umgibt, aber dann sind sie leichtsinnig und rühren uns nicht mehr, sondern erschrecken uns.

Louis hielt sich nicht an diese Reflexionen, wie sie Murray auszuspinnen liebte, sondern an die Thatsache:

Lebt das Kind, lebt es nicht mehr?

Ich mache Fortschritte in der Menschenkenntniß, sagte er. Ich glaube gewiß zu sein, daß dieser geizige, habsüchtige Mann, der leider Ihr Bruder ist, Murray, nicht im entferntesten von dem Tode Ihres Sohnes überzeugt ist. Er will nur die schmuzige Hand ausstrecken nach der vermeintlichen Erbschaft. Er sollte nichts wissen von diesem Kinde? Er sollte es ganz der Sorge seiner Schwester überlassen haben? Eines wäre eine glückliche Auskunft aus diesem Dunkel. Wenn sie einträfe, Murray!

Welche, mein Freund?

Daß die Mutter dieses Knaben, Ihre einstige Freundin, in alten Tagen den Fehltritt ihrer Jugend bereut und sich des Schicksals Ihres Sohnes wieder angenommen hätte!

O Das wäre eine Erzählung aus »Tausend und Einer Nacht« sagte Murray lächelnd. An solche Märchen muß man nicht glauben in Der Welt, in die es einst der Baron Grimm gewagt hat, sich einzudrängen ...

Den Rest des Vormittages brachte Louis nun noch damit zu, Geschäftsbriefe nach der Residenz zu schreiben, in denen er seine bevorstehende Rückkehr von Hohenberg ankündigte. Kurz vor dem einfachen Mahle, das ihnen Brigitte zubereitet hatte, durchflog er die Zeitungen, in[2577] denen Egon's schwierige Stellung nicht verschwiegen war. Der Fürst hatte sich auf eine bedenkliche Art von allen Parteien isolirt, sich dabei zwar sehr hoch gestellt, aber auf eine Höhe hin, wo ein schneidender Zugwind wehte. Der Hof schien dem jungen Staatsmann volle Gewalt gegeben zu haben. Er stellte ihm alle Mittel zu Gebote, die das constitutionelle Wesen im Vorrath hat, um von einer Verständigung mit dem Publikum an die andre zu appelliren. Man konnte sich noch der Hoffnung hingeben, daß die Wahlen die thatkräftige neue Administration unterstützen würden. Viele aber bezweifelten diese Hoffnung und fanden es für rathsamer, daß das Ministerium sogleich aus eigener Machtvollkommenheit einen neuen Wahlmodus oktroyirte. Dennoch blieb dieser Erlaß, den man schon in den neuesten Nummern erwartete, aus, ein Beweis, daß Fürst Egon seine Hülfsmittel nicht zu rasch verbrauchen wollte. Auch ließen die mit vielem Geiste geschriebenen Artikel des »Jahrhunderts« ahnen, daß das Ministerium erst die öffentliche Meinung für seine Auffassung der Staatsaufgabe theoretisch und praktisch gewinnen wollte, bis es mit Gesetzen hervortrat, die auf diese Theorie und Praxis begründet waren. Der Adel, die Beamten, das Militair, ja sogar ein großer Theil der Wissenschaft und Kunst schwärmten schon für die neue Regierung. Sie verhieß Kraft. Sie verhieß Erlösung von einer Anarchie, die nicht mehr ausrottbar schien. Die Politik wurde von den Straßen verbannt; auch aus den Clubs fing Egon schon an, sie auszutreiben. Louis las mit[2578] beklommenem Gefühle, daß die Arbeitervereine ihre Statuten einreichen mußten und mehre geschlossene Gesellschaften nach jenem tumultuarischen Abend bereits verboten waren. Egon hatte sich in einer Zuschrift an seinen Wahlbezirk der Worte bedient: »Wo zwei Gewalten regieren wollen, kann der Staat nicht bestehen. Die Gewalt soll eine getheilte sein. Diese Lehre ist alt und ich finde sie schon dadurch bewährt, daß jede Verantwortung gemildert wird, wenn mehre Schultern sie zu tragen haben. Aber die Theile der Theilung müssen gleichartig sein. Unterordnen müssen sie sich können der großen, untheilbaren Idee des Volkswohles, des Thatbestandes. Wo zwei gleichberechtigte Gewalten gegeneinander auftreten, steht die Maschine still. Ich erkenne im Staate nichts an, was höher ist als das Volkswohl. Auch der Monarch ist in meinem Systeme der Diener des Volkswohles. Er vertritt die natürliche Ordnung des Lebens, das Maß, die Grenze aller ehrgeizigen Bestrebungen. Er ist ein Theil der großen Einheit des Volkswohles. Reicht ihm die Hände, ihr wackern Bürger! Seid die Zweiten im Bunde! Die ausführende Gewalt, die das Ministerium vertritt, ist die dritte Gewalt! Aber eine Gewalt der Volksversammlungen, der Clubs, der Kasernenverschwörungen, der Preßanarchie werd' ich nimmermehr anerkennen. Ich erinnere Sie an das Wort eines großen Dichters, des Briten Shakespeare, der den Jammer des römischen Staates nach den Erfahrungen des britischen in dem Schmerzrufe schilderte:
[2579]

Mein Herz, es weint,

Zu seh'n, wie wenn zwei Mächte sich erheben

Und keine herrscht, Verderben, ungesäumt

Dringt in die Lücke zwischen Beid' und stürzt

Die Eine durch die Andre.«


Nach dem bescheidenen, in schweigsamer Spannung hingebrachten Mittagsmahle schickte sich Louis an, zur Schmiede hinabzugehen. Er hatte mit Murray verabredet, daß dieser auf einem kürzern Wege zum Walde hinunter steigen und sie beim Eingange in das dunkle Tannengehölz, das den Anfang bildete, erwarten sollte. Murray war es einverstanden und besorgte nur, daß sein Bruder nicht Wort halten und doch wol mit seinem Sohne kommen würde, der für Das, was sie im Forsthause vorhätten, ein lästiger Zeuge sein würde. Louis aber versprach sich den glücklichsten Ausgang.[2580]

Quelle:
Karl Ferdinand Gutzkow: Die Ritter vom Geiste. [Band 1–3], Frankfurt a.M. 1998, S. 2553-2581.
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