[27] »Wer die Menschheit nicht in ihren niedrigen Sphären erkannt hat, begreift sie nicht in ihren Höhen.«

Bogumil Goltz


Vorwort des Verfassers zur ersten Auflage

Die nachfolgenden Blätter wurden nicht geschrieben, um einigen großen Mustern in der Autobiographie nachzueifern. Dem Verfasser war bei Abfassung derselben seine Person in dem Grade Nebensache, daß er sich ausdrücklich gegen die Auslegung verwahrt, als hätte er von sich ein Entwicklungsbild geben wollen.

Er schilderte seine früheste Jugend ihrer besonderen Umstände und Tatsachen wegen, die dem Verfasser nicht undenkwürdig erschienen zunächst ihres Schauplatzes wegen.

Denn Berlin ist eine Stadt, die als Heimatstätte von Personen, die in die Literaturgeschichte eingetreten sind, nicht eben besonders berufen ist. Berlin könnte, behauptete man lange Zeit, nur gesuchten Witz, kalten Verstand und Gemütsleere hervorbringen. Wie ist nicht seit Goethe und den schwäbischen Lyrikern der Norden Deutschlands überhaupt vom Süden verketzert worden!

Nun aber haben sich seither alle Gebiete Deutschlands in ihrer besonderen Eigentümlichkeit geregt, haben ihren Schoß geöffnet und die Quelladern deutscher Sitte, deutschen ursprünglichen Lebens selbst an Stellen sichtbar werden lassen, wo man bisher wenig Spuren davon hatte sehen wollen. Schwaben zeigte sich, wie sich von selbst versteht, als das Goldland der Poesie und des privilegierten »Gemüts«, das Rheinland als der Armidagarten der Phantasie, Thüringen öffnete die Felsenspalten seiner Sagen, wo die verzauberten Kaiser träumten über die Zukunft unsres Volkes, Schlesien, Westfalen, selbst die Lüneburger Heide und die Deutschböhmen haben über die Meilenzeiger der Landstraße, die bunten Röcke der Polizei und das große Nivellement der modernen Wirklichkeit hinweg irgendein heimatlich Besonderes,[27] traulich anders, als was alle kennen, von sich zu offenbaren gewußt. Nur Berlin brachte als spezifisch Berlinisches – immer und immer nur seine Eckensteherwitze, eine gewisse sentimentale Weißbiergemütlichkeit und die Schusterjungencouplets der Friedrich-Wilhelmstadt hervor.

Ist denn nun aber wirklich Berlin so flach, poesielos, unidyllisch, wie es sich gibt und genommen zu werden pflegt? Geht jener unterirdische Silbererzgang des deutschen Gemütslebens wirklich um die Mark Brandenburg herum und befreundet sich nirgends mit der bescheiden flutenden Spree, einem Strom, von dem man doch ganz vergessen zu haben scheint, daß auch er von einem Gebirge herunterhüpft, und bei Bautzen wahrhaft tobt und schäumt wie ein Wildwasser? Berlin ist von Hause aus prosaisch! Das möchte man fast glauben, wenn man sieht, was sich alles an Ort und Stelle auf der breiten Grundlage Berliner Trivialität, vulgo »Quatsch« genannt, aufbauen darf und von eigentlich Heimischem dabei nur Tatsachen, die im deutschen Vaterlande wenig Kredit gewinnen wollen. Und doch besitzt Berlin in sich selbst eine bessere Entwicklungsfähigkeit, als ihm die speziellen Interessen der dortigen Tonangabe seit fünfzig Jahren gestatten wollen. Ja, es ist nicht wie es scheint, so verlassen von einer gewissen Ursprünglichkeit, und die Neigung zur Selbstpersiflage ist durchaus nicht primitiv vorhanden. Es ist nicht einmal so kahl, so sandig, so farblos in seiner Umgebung, wie man nach den allgemeinen topographischen Bedingungen der Mark und dem Spott des bevorzugteren Südens bisher geglaubt hat.

Vielleicht nützen die nachfolgenden Blätter einem besseren Studium. Schon das wäre erfreulich, wenn einmal die Tausende von Berliner, die das spezifisch Berlinisch-sein-Sollende erst auf dem Theater oder in der bekannten Jargonliteratur kennengelernt haben, den Blick von ihrem Geburts- und Heimatschein aufzuschlagen wagen und bekennen dürfen: Endlich schwindet dieser falsche Schimmer totaler Unpoesie, dieser Beigeschmack von Verstandesnüchternheit, der auf dem berlinischen Ursprunge liegen soll und dem eine geringe Bildung, vorzugsweise in den Theatern,[28] von verdorbenen Schauspielern und allerlei anderen dilettantischen Elementen ausgehend, einen spezifisch sein sollenden Charakter gegeben hat. Die nachfolgenden Blätter sind nur eine Probe dessen, was der Verfasser von späteren Lebenszeiten reicher, eine Probe dessen, was tausend andere noch ohne Zweifel bunter und mannigfaltiger aus ihrer eigenen Jugend zur Widerlegung eines Vorurteils ans Licht bringen könnten.

Nächst dem Interesse des Schauplatzes glaubt der Verfasser zugleich von allgemeinen Seelen- und Lebenszuständen manches dargestellt zu haben, was den Erzieher, den Freund des Volks beschäftigen kann. Hier und da gibt er Beiträge zu einer Wissenschaft, die man neuerdings »Gesellschaftskunde« genannt hat, einer Wissenschaft, welche die leere und allgemeine Bezeichnung des Volkes in seine einzelnen Bestandteile auflösen, die große Masse gruppieren will und über die wir kürzlich von W. H. Riehl ein mannigfach anregendes Buch erhalten haben.

Endlich stellen sich diese Blätter die letzte Aufgabe, für Berlin selbst ein allmähliches Sichentwinden und langsames Freiwerden vom Lokalgeiste zu schildern. Der Verfasser hat diesen Prozeß an sich selbst durchgemacht. Einen schönen Jugendwahn auf hoher Lebensfahrt als drückenden Ballast zu erkennen und fortzuwerfen, kostet für jedes fühlende Herz Überwindung. Könnte jedoch der Verfasser zeigen, daß man liebende Pietät und strenge Beurteilung der in seiner Jugend empfangenen Eindrücke in ein Gleichgewicht bringen kann, »wo man der Empfindung nicht schenkt, was dem Verstande gebührt«, so hätte er noch einen geheimen und von ihm mit vertrauendem Herzen angestrebten Zweck dieser Blätter erreicht.

Die endlich an der Darstellung vielleicht auffallende, zuweilen scherzend übertreibende Wort- und Bilderwahl möge die Tatsachen selbst nicht verdächtigen, die ohne Ausnahme faktisch sind und niemanden anders als bereits Verstorbene treffen. Der bekannte aufgebauschte Ausdruck des komischen Heldenepos schlich sich hier und da nur deshalb in die Prosa ein, weil eine innere Besorgnis den in der Würdigung seiner Herzensmotive selten glücklich[29] gewesenen Verfasser bestimmte, überall da, wo bei alledem seine eigene Person zu sehr hervortrat, lieber sogleich selbst Gelegenheit zu einem Lächeln zu geben, das er überhaupt in diesem Buch selbst bei den wohlwollenden Lesern desselben immer wird voraussetzen müssen.


Dresden, Februar 1852

Karl Gutzkow[30]

Quelle:
Karl Gutzkow: Aus der Knabenzeit. In: Berliner Erinnerungen und Erlebnisse, Berlin 1960. S. 27–264, S. 27-31.
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