Als er sich über ihren Eigensinn beschwerte

[29] Wer wollte dich nicht englisch preisen,

Der so wie ich dein Antliz kennt!

Du kanst mit allen Blicken weisen,

Daß man dich billig Engel nennt,

Trift dies nur blos noch überein,

Daß Engel können grausam seyn.


Bedencke nur dein ganzes Wesen,

Es ist so gar durchaus galant,

Auf allen Gliedern kan man lesen:

Dies Bild ist Göttern anverwand

Und wie es nicht natürlich ist,

Daß du so gar vollkommen bist.


Die wunderschönen Zauberspiegel,

So immer in Bewegung stehn,

Die marmorweißen Amorshügel,

Wenn sie stets auf- und niedergehn –

Sagt, wenn der Neid sie selber schaut:

Hier hat mehr als Natur gebaut.


Denck ich noch an die Tugendschäze,

Die deine Schwanenbrust umschliest,

So sag ich (doch ist's Dohlgeschwäze),

Daß du ein Bild der Tugend bist,

Und fällt mir nur beständig ein,

Du müstest mehr als menschlich seyn.


Ach, aber deine Seltenheiten

Sind fast wie jenes Paradies,

Dieweil es zu den Unschuldszeiten

Noch alles recht vollkommen wies;

Doch dieses, was verbothen war,

Das stellte sich am schönsten dar.
[30]

Bedencke doch, mein ander Leben,

Die Sonne giebt dem Mond ihr Licht,

Daß er den blaßen Schein kan geben;

Ihr selbst blüht keine Blume nicht;

Ja was uns unser Auge weist,

Ist, daß es andern Dienste leist.


Ist's möglich, daß so harte Sinnen

Und ungemeine Sprödigkeit

Die zarten Glieder hegen können,

Die mir ein anders prophezeit?

Hier trift es nicht von Engeln ein,

Daß sie dienstbahre Geister seyn.


Was zehlt man nicht vor lange Stunden,

Wenn uns etwas an Gliedern fehlt;

Nun dencke, was mein Herz empfunden,

Daß noch so gar empfindlich quält

Ein Feuer, so in ihm entbrand,

Da dich mein erster Blick gekand.


Ich will dich über alles schäzen

Und stündlich deinen Ruhm erhöhn.

Wird mich noch deine Huld ergözen,

Daß wir in gleichen Flammen stehn,

So sag ich, wie's die Warheit ist,

Daß du noch mehr als englisch bist.

Quelle:
Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Leipzig 1930, S. 29-31.
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