An Selenen, als er ihr Kräuterthee schickte

[139] Selene, was mich stets ergözt,

Das ist die Freyheit, dir zu dienen,

Und was ich hier auch aufgesezt,

Entdeckt ein wohlgemeint Erkühnen.

Die Kranckheit, so dir jezo droht,

Erschröckt mich ärger als du denckest;

Doch, wo du mir Erhörung schenckest,

So hat der Anstoß keine Noth.


Ich weis es zwar, dein hoher Geist

Vermag sich allemahl zu faßen,

Und wie sein Wesen himmlisch heist,

So kan er leicht die Welt verlaßen;

Allein du kanst zu jeder Zeit

Noch früh genug zum Engel werden,

Und also gönne doch der Erden

Den Schmuck von deiner Seltenheit.


Bedencke doch nur den Verlust,

Wofern ein früh Verhängnüß wollte,

Daß so viel Schönheit kluger Brust

In besten Jahren sterben sollte!

Las die getrost zur Grube gehn,

Die Freude, Wiz und Muth verlieren;

Du solt hinfort von neuem spüren,

Wie artig frische Myrthen stehn.


Du bist ja sonst so sehr bemüht,

Dich nett und kostbar anzukleiden;

Denn wenn dich deines gleichen sieht,

So hört und sieht man dich beneiden;

Jedoch bey aller dieser Tracht,

Du magst sie noch so schön ergründen,

Ist doch kein beßer Kleid zu finden

Als was dir die Natur gemacht.
[140]

Trag Sorge vor den schönen Leib

In Arbeit, Speisen, Luft und Wachen

Und nimm bequemen Zeitvertreib,

Ihn weder faul noch schwach zu machen.

Fleuch Salz und Eßig als das Gift,

Bezwinge Zorn, Verdruß und Schröcken

Und las dich niemahls eh erwecken,

Als bis dein Ohr die Stunde trift.


Verzeih, Selene, meiner Hand,

Sie schreibt nur kurze Grundgeseze,

Damit kein größer Übelstand

Der schönen Glieder Bau verleze.

Sechs Wochen las dies Thee nicht ruhn;

Mein Wuntsch hat Kräfte beygetragen,

Ich weis, du wirst in kurzem sagen:

Kan Waßer solche Dinge thun?

Quelle:
Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Leipzig 1930, S. 139-141.
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