An Leonoren

[198] Gedenck an mich und sey zufrieden

Mit dem, was Glück und Zeit bescheert;

Wir werden noch einmahl geschieden

Und scheinen solcher Prüfung werth.

Die wahre Treu erinnert dich:

Halt an, halt aus und denck an mich!


Gedencke der vergangnen Tage,

Wie manches Creuz, wie manche List,

Wie manche Lust, wie manche Plage

Bereits damit vergangen ist;

Gedenck an Altan, Hof und Herd,

Wobey sich dir mein Herz erklärt.


Gedenck an unser Abschiednehmen,

Insonders an die lezte Nacht,

In der wir mit Gebeth und Grämen

Die kurzen Stunden hingebracht;

Gedenck auch an den treuen Schwur,

Der dort aus deinen Lippen fuhr.


Gedenck an mich an jedem Morgen

Und wenn die Sonne täglich weicht,

Gedenck an mich bey Fleiß und Sorgen,

Mein Bildnüß macht sie süß und leicht.

Verlezt dich auch der Misgunst Stich,

Der beste Trost: Gedenck an mich.


Gedenck auch an die frohen Zeiten,

Die noch in Wuntsch und Zukunft sind;

Die Vorsicht wird uns glücklich leiten,

Bis Lieb und Treu den Kranz gewinnt.

Ein Augenblick vergnügter Eh

Bezahlt ein Jahr voll Angst und Weh.
[199]

Gedenck auch an mein heutig Küßen,

Es giebt der Hofnung frische Kraft,

Es wird dein Warthen trösten müßen,

Es nährt die alte Leidenschaft;

Doch denck auch endlich, liebstu mich,

Allzeit und überall an dich!

Quelle:
Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Leipzig 1930, S. 198-200.
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