Der Unterscheid jeziger Zeit und der Jugend

[271] Vor diesem dacht ich mit der Zeit

Ein groß und vornehm Thier zu werden,

Ich sucht in Kleidung und Gebehrden

Vor allen einen Unterscheid;

Ich sann viel Staatsstreich auszuführen,

Vergafte mich am Mazarin

Und grif mit feurigem Studiren

Nach Palmen, die den Klügsten blühn.


Immittelst nahm mein Alter zu,

Die Jugend gab mir viel zu wißen,

Ich ward durch manchen Fall gerißen

Und sucht ein Leben ohne Ruh.

Ich sah in klein- und großen Ständen

Viel Kummer, Thorheit, Pein und Neid

Und grif nunmehr mit beiden Händen

Das Gauckelspiel der Eitelkeit.


Wo ist denn nun mein Ehrgeiz hin?

Wo sind die flüchtigen Gedancken,

Womit ich oftmahls aus den Schrancken

Gemeines Glücks geflogen bin?

Es reizt mich kein berühmter Tittel,

Es rührt mich weder Hof noch Pracht,

Ich finde, deucht mich, viel im Kittel,

Was kluge Seelen glücklich macht.


Dies, große Weißheit, danck ich dir,

Dies danck ich dir, du süße Liebe;

Durch eure Lust, durch eure Triebe

Erfind ich selbst mein Glück in mir.

Bleibt Phillis mir nur treu ergeben,

So ficht mich wohl kein Wuntsch mehr an,

Als daß ich mit ihr ruhig leben

Und einmahl freudig sterben kan.

Quelle:
Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 1, Leipzig 1930, S. 271-272.
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