Orthodoxissima seculi nostri paradoxa

[258] Was ist das beste Buch? Des Heilands Lehr und Leben.

Was macht denn einen Christ? Der Trieb, ihm nachzustreben.

Wer hat die Seeligkeit? Wer Gott recht ehrt und liebt.

Wer ehrt und liebt ihn recht? Der, so sich eifrig übt,

Ihn aus Vernunft und Licht und aus der Welt zu kennen.

Wer aber ist denn wohl ein weiser Mann zu nennen?

Wer nichts bewundern darf, nicht alles eitel macht,

Auf kein Verhängnüß flucht und weder weint noch lacht.

Wo liegt das höchste Gut? Im ruhigen Gewißen.

Wer ist auf unsren Fall am eifrigsten beflißen?

Der Mensch. Wer heist denn reich? Der, welcher nichts begehrt.

Wer arm? Der dürre Geiz, der von sich selber zehrt.

Was kan wohl unsrer Eh die reichste Mitgift geben?

Ein Kind von Ehrligkeit und unschuldsvollem Leben.

Welch Mägdgen ist denn keusch? Von der sogar der Neid

So still als öfentlich sich was zu lügen scheut.

Was heist nun wohl gelehrt? Das, was man sagt, beweisen.

Wie wird ein Mensch ein Mensch? Durch Einsicht und durch Reisen.

Wo mögen Heerden seyn, in die kein Miedling lauft?

Vielleicht in Schlesien, da werden sie gekauft.

Was macht der Orthodox? Zanck, Kezer, Atheisten.

Wer mehrt der Heuchler Schwarm? Die tummen Pietisten.

Was ist in unsrer Zeit das gröste Wunderwerck?

Zween Örter: erstlich Wien, hernach auch Wittenberg;

Dort herrscht nunmehr Trajan zum andern Mahl auf Erden,

Hier will der Pabst nun gar zum Lutheraner werden.

Sezt noch das dritte zu! Was? Jena. Wie? Warum?

Hier ist die güldne Zeit ein eisern Seculum:

Was ist die ganze Lust der meisten Purschentage?

Ein Wirthshaus breiter Bahn, ein Buch voll Schuld und Klage.

Was mag ihr Wahlspruch seyn? Als flögen wir davon.

Was bringt sie endlich ein? Viel Nachreu, wenig Lohn.[259]

Wo aber ist nun auch ein wahrer Freund zu finden?

Ja, Bruder, lehre mich die Antwort selbst ergründen;

Ich habe mich darum viel Jahr umsonst bemüht,

Versuch, ob dir darin das Glück einst früher blüht.

Quelle:
Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 2, Leipzig 1931, S. 258-260.
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