Am XV. Sonntage nach Trinitatis

[287] Epistel Gal. V. v. 25. 26. und Gal. VI. v. 1. etc.


Text


Im Geiste sind und leben wir,

Im Geiste last uns wandeln,

Nicht aber eitles Hochmuths voll

Mit Haß und Misgunst handeln!

Ja, lieben Brüder, fehlt ein Mensch,

So zeiget eur Geschlechte

Und helft ihm, weil ihr geistlich seyd,

Mit Sanftmuth stets zurechte.


Habt allzeit Achtung auf euch selbst,

Man möcht euch sonst versuchen.

Tragt einer auch des andern Last

Wie Christus ohne Fluchen.

Wer Stolz und Eigenliebe nährt

Und diesen Dünckel spüret,

Er sey etwas und ist doch nichts,

Der wird durch sich verführet.


Ein jeder prüfe blos sein Werck

Nach Zustand, Zeit und Würde,

So bleibt auch ihm allein der Ruhm

Wie jedem seine Bürde.

Wer durch das Wort gelehret wird,

Der soll auch danckbar leben

Und diesem, der ihn unterricht,

Von allen Gütern geben.


Irrt nicht, Gott duldet keinen Spott,

Wie Bethels Knaben lernten;

Denn was der Mensch allhier gesät,

Das wird er einmahl erndten.

Ein jeder, der auf Fleisch gestreut,[288]

Der erndtet das Verderben,

Wer aber auf den Geist gesät,

Wird ewig Heil erwerben.


Nun, Brüder, last uns Gutes thun

Und dadurch nicht ermüden;

Wir erndten dort in Ewigkeit,

Bedenckt doch euren Frieden!

Jezt haben wir noch Zeit und Raum,

Thut Guts und dienet allen,

Hauptsächlich denen, die mit uns

Zu einem Tempel wallen.


Lehre


Seitdem uns Adams erste Frucht

Geschmack und Geist verdorben,

Seitdem ist unser Fleisch und Blut

Zum Guten ganz erstorben.

Gedancken, Worte, Werck und Sinn

Sind nichts als finstre Sünden,

Wofern wir nicht des Geistes Licht

In unsrer Seel entzünden.


Drum traf uns des Gesezes Fluch

Und schröckte mit dem Joche.

Die Zeit des alten Testaments

War eine Marterwoche,

In der der eußerliche Zwang

Den Saamen Jacobs drückte

Und niemand in das Heiligste

Der wahren Gnade blickte.


Doch endlich kam der Vorhang weg,

Und Zwang und Joch zerfielen,

Der Heiland kam in unser Fleisch,

Des Vaters Zorn zu kühlen.

Der gab ein angenehmer Joch[289]

Und süße Botschaftslehren;

Will jemand vom Geseze los,

Der muß sie freudig hören.


Ein recht- und wahres Christenthum

Besteht in solchem Leben,

Das deßen Wandel ähnlich ist,

Der uns sein Blut gegeben.

Gebt Achtung, was der Meister thut,

Das soll der Jünger faßen,

Und, was er liebet oder flieht,

Auch lieben und verlaßen.


Der Heiland schalt nicht, wenn man schalt,

Er bat vor seine Feinde

Und machte durch Gelaßenheit

Die Zöllner sich zum Freunde.

Sein Leben war ein Tugendbild,

Sein Strafen nichts als Lieben.

In diesem allen soll ein Christ

Sich stets und ernstlich üben.


Damit man nun im Guten bald

Zur Fertigkeit gelange

Und als ein frommer Unterthan

In Christi Reiche prange,

So ist es noth, die Hindernüß

Und Bürden abzulegen,

Die uns als Pilger dieser Welt

Zu überladen pflegen.


Dies heist, man muß erst wider sich

In scharfen Kampf gerathen;

Die Selbstbezwingung ist der Kranz

Von allen Heldenthaten.

Hier braucht es nun nicht wenig Fleiß

Und Einsehn, Flehn und Wachen,[290]

Des Fleisches Widerspenstigkeit

Zum Guten zahm zu machen.


Wer solche Lüste dämpfen will,

Der seh auf Christi Leiden.

Der Spiegel seiner harten Angst

Vergällt die eitlen Freuden,

Sein Blut, sein Schweiß, sein Gallentranck

Und tief zerfleischter Rücken

Nebst Speichel, Dornen, Spott und Hohn

Kan Adams Lust ersticken.


Sobald sich nun in uns der Trieb

Des eignen Willens leget,

So eilt man leichter auf der Bahn,

Die nach dem Himmel träget.

Und kurz, was unsers Heilands Huld

Gethan und vorgeschrieben,

Das ist vor unsre Pflicht sonst nichts

Als kämpfen, leiden, lieben.

Quelle:
Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 2, Leipzig 1931, S. 287-291.
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