Zuruf eines seeligen Kindes aus der Ewigkeit an seine hochbetrübte Eltern

[187] Crönt, werthen Eltern, meine Leiche

Mit Myrthen, Rosen und Jasmin,

Und last die schönsten Blumensträuche

Auf meiner frühen Bahre blühn,

Nachdem der Engel Siegeswagen

Mich ins gelobte Land getragen.


An mir ersaht ihr mit Erbarmen

Den schwersten Kampf der lezten Noth.

Es rungen die geschwächten Armen

Mit Jammer, Unruh, Angst und Tod,

Und durch die abgezehrten Glieder

Lief Schmerz und Elend hin und wieder.


Riß damahls euer Herz in Stücken

Und wollt euch aller Trost entfliehn,

Da meiner Finger scharfes Zücken

Der Eitelkeit zu wincken schien,

So gebt euch jezo nur zufrieden,

Das Elend ist mit mir verschieden.


Last Perlen statt der Thränen fallen,

Die Unschuld braucht sie in mein Kleid.

Ach, hörtet ihr die Lieder schallen,

Woran sich jezt mein Ohr erfreut,

Ihr würdet euch des Klagens schämen

Und um mein Glücke wohl nicht grämen.


Was hätt ich euch vor Müh und Kummer

Vielleicht auf Erden noch gemacht,

Wofern mich nicht der lezte Schlummer

So zeitig in die Ruh gebracht!

Wie mancher Sorgen und Beschwerden

Entladet euch mein Grab auf Erden!
[188]

Jezt bin ich der Gefahr entflogen,

Womit die List der bösen Welt

So wie des wilden Meeres Wogen

Die Jugend oft in Abgrund schnellt.

Jezt kan mich weiter nichts verführen,

Ihr aber mich nicht mehr verlieren.


Legt also dem entseelten Leibe

Das Kleid der grünen Hofnung an;

Denn weil ich euch zum Zeitvertreibe

Auf Erden nicht mehr dienen kan,

So werd ich hier bey Salems Schäzen

Euch einmahl desto mehr ergözen.


Liegt irgendwo in eurer Kammer

Ein Spielwerck oder Kleid von mir,

So denckt dabey an meinen Jammer

Mit diesem Troste: Weit von hier,

Von hier, wo Herrligkeit und Leben

Mein nicht mehr schwaches Haupt umgeben.


Hier wird die eingefallne Scheitel

Mit Glanz und Klarheit angefüllt,

Bey euch ist aller Reichthum eitel,

Da hier mein Wechsel ewig gilt,

Mein Wechsel, der nach wenig Tagen

Den besten Wucher eingetragen.


Es rührt mich weder Qual noch Schröcken

In Gottes weiser Allmachtshand,

Was wir hier hören, sehn und schmecken,

Ist euren Sinnen unbekand.

Ach, gönnt doch eurem lieben Sohne

Die Freyheit vor des Lammes Throne.
[189]

Lobt den, durch deßen Vatergüte

Mein zeitlich Creuz so bald vergeht,

Und glaubt, daß mein getreu Gemüthe

Vor Gott auch euer Lob erhöht.

Hier rühm ich mit dem reinsten Triebe

Die Sorgfalt mir erwiesner Liebe.


Mit diesem Dancke nehmt vor Willen,

Und seht mir in den Himmel nach,

So wird sich alle Wehmuth stillen,

Wormit ich euch das Herze brach.

Lebt wohl! Und wüntscht ihr mehr zu hören,

So kommt fein bald zu unsern Chören!

Quelle:
Johann Christian Günther: Sämtliche Werke. 6 Bände, Band 3, Leipzig 1934, S. 187-190.
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