Der Hirsch und der Weinstock

[111] Ein Spießhirsch, dem die nahe Jagd

Die schlanken Läufte zittern macht,

Flieht schnell zu Holz, und thut sich nieder.

Der Leithund sucht durch Busch und Flur,

Verfolget Fährte, Schritt und Spur,

Und findet ihn im Prudel wieder.


Der Hirsch verändert seinen Stand,

Und springt in ein verzäuntes Land,

Wo bald ein Weinberg ihn verstecket.

Des Hifthorns Ruf, das Jagdgeschrei,

Die muntern Jäger ziehn vorbei,

Sein Wiedergang bleibt unentdecket.


Da nichts ihn mehr verscheuchen kann,

Fängt er den Stock zu nagen an,

Bricht und entblättert Zweig und Reben.

Man hetzt auf dies Geräusch zurück,

Er wird, beinah im Augenblick,

Erlegt, zerwirkt und preis gegeben.


Er schreiet, da er zappelnd weint,

Da Hund und Rach' und Tod erscheint,

Und sich mit Schweiß die Ranken färben:

Ich sterbe, weil ich den verletzt,

Der mich in Sicherheit gesetzt.

So sollten, die ihm gleichen, sterben.


Quelle:
Friedrich von Hagedorn: Sämmtliche poetische Werke, Leipzig o.J, S. 111-112.
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